Salamitaktik
trug heute einen anderen Anzug, der aber genauso maÃgeschneidert aussah wie der vom Vortag. Kurz darauf waren sie ohne Frühstück mit einem dunkelgraumetallicfarbenen 5er BMW losgefahren.
Der schicke Irfan schwieg nahezu die gesamte Fahrt über. Als Mario ihn fragte, was denn eigentlich so besonders an den Würsten sei, antwortete er kalt: »Wir verarbeiten darin die Leute, die uns verarschen wollten.« Dann grinste er, aber Mario war gar nicht nach Lachen zumute. Er fragte sich insgeheim, ob Irfan vielleicht die Wahrheit gesagt hatte. Waren es Würste aus Menschenfleisch? Würde er eines viel zu nahen Tages vielleicht sogar selbst durch einen Fleischwolf gedreht, um in so einer Wurst zu landen? Er zwang seine Gedanken in andere Bahnen, um die aufkommende Ãbelkeit wegzudrücken.
Ansonsten blieb die lange Fahrt eintönig. Sie hörten ununterbrochen traditionelle türkische Musik, die Mario spätestens ab Karlsruhe gehörig auf die Nerven ging. Aber er hütete sich, etwas dazu zu sagen. Bei den meisten Stücken trommelten Irfans Finger im Takt auf dem Lenkrad, bei einigen sang er sogar leise mit. SchlieÃlich verlieÃen sie die Autobahn und näherten sich über kurvige und Mario wohlbekannte StraÃen mit vielen Steigungen dem kleinen Ort Raich, in dem er mit seinen GroÃeltern und seinem Onkel lebte. Irfan stellte die Musik ab, als sie auf die Zufahrt zum Birktalerhof fuhren, an dessen Fahnenmast GroÃvaters alte, über die Jahre ausgeblichene badische Fahne im späten Maiwind wehte. Mario fragte sich erneut, wie seine Oma und sein Opa wohl auf den schicken Irfan reagieren würden.
»Ich wohne bei meinen GroÃeltern«, sagte er vorsichtig. Irfan nickte. Mario beschloss, ihn etwas genauer über sein Vorhaben zu informieren. »Ich werde ihnen sagen, dass Sie ein Freund von mir sind.«
»Du.«
»Ãh, was?«
»Wenn ich ein Freund sein soll, musst du mich duzen«, sagte Irfan emotionslos.
»Ja, genau. Also, ich werde ihnen sagen, dass ich dich besucht habe und du ein paar Tage frei hast. Genau. Ich will dir ein bisschen die Gegend zeigen. Dann können wir rumfahren, ohne dass sie Verdacht schöpfen.«
»Wenn du meinst.«
Der Birktalerhof lag auf der Gemarkung Raich am Ortsausgang Richtung Ried. Vor ein paar Jahren war Raich noch ein eigenständiger Ort gewesen, mittlerweile gehörte er zu einer neu gegründeten Gemeinde, die den Namen »Kleines Wiesental« bekommen hatte. Die Zusammenlegung war notwendig geworden, weil sich die Gemeinden allein nicht mehr lange hätten halten können. Aber dass niemand einen besseren Einfall als die reine Landschaftsbezeichnung gehabt hatte, leuchtete ihm immer noch nicht ein. Er fand Alemannisten eigentlich ganz cool.
Der Hof war gut zweihundertvierzig Jahre alt, und die braungelbe Fassade unter dem hölzernen Dach gehörte längst saniert, aber dafür fehlte das Geld. Das Unkraut war während der paar Tage, die Mario nicht da gewesen war, regelrecht in die Höhe geschossen, und der Fensterladen am Esszimmer sah aus, als hätte er sich noch etwas mehr aus seiner Verankerung gelöst. Seit Marios Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, lebte er hier mit seinen GroÃeltern. Er war erst sechs gewesen, als sie zum Einkaufen gefahren, aber nie mehr zurückgekehrt waren. Nur wenige Erinnerungsfetzen waren ihm geblieben. Mama, wie sie ihm erklärte, dass er den Herd nicht anfassen durfte. Papa, wie er ihn auf seinem ersten Fahrrad anschob. Der Geruch, wenn Mario nachts in ihr Bett gehuscht war, wenn sie schon schliefen. Später hatte er oft bei Oma und Opa im Bett gelegen, auch dazu gab es eine Erinnerung an das Gefühl von Wärme und Liebe â und doch war es anders als das bei seinen Eltern.
Die GroÃeltern hatten sich gut um ihn gekümmert, was nicht immer einfach gewesen war. Jetzt sah die Situation anders aus. Er war erwachsen und sie beide alt. Es war nun seine Pflicht, für sie zu sorgen. Und er tat es gern. Marios Oma konnte kaum noch gehen und lag meist in ihrem Zimmer. Sein Opa war zwar körperlich und geistig noch richtig fit, hatte aber seine frühere Tatkraft verloren. Eigentlich bereits seit dem Tag, an dem seine Tochter zwei Kilometer von hier entfernt am Hang vor dem Ort gestorben war. Er schien jeden Tag ein bisschen mehr zu schrumpfen, obwohl er beileibe kein kleiner Mann war.
Vieh hatten sie kaum noch. Es
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