Salomes siebter Schleier (German Edition)

Wasser. Wasser zu Erde. Erde zu Himmel.
    Bis die Sonne aufgeht und das Gold sich aufs Neue an ihr reibt.
    I & I

So integrierte der Zweite Tempel im letzten Teil seines fünfhundertjährigen Daseins die alte Religion in die neue. Vereinte Geist und Seele. Lieferte eine funktionelle Metapher für die Transzendenz. Band menschliche Individuen auf reale und persönliche Art in die kosmischen Zyklen ein.
    Conch Shell diente als Kelch für die Säfte der Existenz. Painted Stick war ein Anzeiger psychischen Wetterleuchtens, ein Pfosten, an dem die Milchstraße vertäut war.
    Es könnte sein, dass der junge Jesus, wenn er unter dem verhassten römischen Adler eintrat und ebenso wie die anderen Pilger dessen kriegerische Krallen ignorierte, solche Zeremonien beobachtet hat. Als Gegengewicht zur Heuchelei, Engstirnigkeit und Korruption, die sich in der Hierarchie des Tempels auszubreiten begannen (und ihn bald zur offenen Rebellion anstachelten), muss Jesus diese Rituale erfrischend gefunden haben. Andererseits bewirkten sie vielleicht auch ein unbehagliches Gefühl. Gewiss waren sie den Jüngern, die in seinem Namen eine Religion begründen sollten, nicht geheuer. Für diejenigen, die beteten, aber nicht tanzten, fasteten, aber nicht feierten, tauften, aber nicht planschten, schlugen, aber nicht bumsten, für diejenigen, die Geist kauften und Seele verkauften, den Vater krönten und die Mutter hintergingen, war Herodes’ Tempel ein bedrohlicher Ort, zur Sommersonnenwende ebenso wie unter dem Erntemond.
    Während Can o’ Beans die Riten aufzählte und alles, was er/sie von dem verschwiegenen Stock-und-Muschel-Pärchen erfahren hatte, fühlte sich auch Spoon ein kleines bisschen unbehaglich. Die beiden strahlten eine Schönheit und Anmut aus, die ihr feines Empfindungsvermögen ansprach, aber trotzdem wurde ihr in ihrer Gegenwart zuweilen etwas mulmig. Was ihr aber wirklich den Magen umdrehte, war die Sache mit Salome. Wie die halbwüchsige Salome ihren Stiefvater, den armen bedrängten Herodes, zum Wahnsinn getrieben hatte in jener Nacht, als sie den Tanz der sieben Schleier tanzte, mit Storchenbeinen und allem.
     
    «Das muss ein Tanz gewesen sein», schwärmte Can o’ Beans. «Herodes hat ihn offenbar nie verkraftet.»
    «Oh, aber Ma’am/Sir, es war nicht nur der angedeutete Matratzensamba, der Herodes fertigmachte. Er litt bereits vorher an Schwermut, weil er von allen abgelehnt wurde. Stellen Sie sich vor: Um Salome zum Tanzen zu bringen, musste er versprechen, Johannes den Täufer köpfen zu lassen. Und ihr den Kopf auf einem Silbertablett zu präsentieren. Ojemine, ist das nicht schrecklich? Ein menschlicher Kopf wie Roastbeef auf einem Teller. Ich darf gar nicht daran denken.»
    «Angeblich war es Herodes’ Frau, Salomes Mutter, die Johannes den Täufer loswerden wollte.»
    «Egal. Herodes stimmte zu. Nur um das junge Mädchen beluren zu können. Kinderpornographie nennt man so was heutzutage …»
    «Sie war sechzehn. In jenen Zeiten war eine Sechzehnjährige eine in jeder Hinsicht erwachsene Frau.»
    «Darum geht es nicht, mit Verlaub. Sondern darum, dass Herodes’ eigene unterdrückte Verkommenheit ihn in den Wahnsinn trieb, nicht irgendwelche schändlichen Peepshows.»
    «Vielleicht haben Sie recht, Miss Spoon. Wer weiß schon, was im menschlichen Gehirn abgehen muss, damit es plötzlich die Hosen runterlässt. Es scheint, als würde es so viele Vorhänge zwischen sich und das wahre Universum hängen, dass kein Licht mehr bis zu ihm durchdringt und es im Dunkeln vor sich hin modert. Auf alle Fälle hatte der König von Judäa ziemlich viel Spucke in der Flöte. Als Salome zu Ende getanzt hatte, pfiff er auf dem letzten Loch. Aufrührerische Juden stürzten den römischen Adler vom Tempel, obwohl Herodes noch lebte und auf seinem Diwan vor sich hin sabberte.»
    «Gut für sie. Auf alle Fälle war er am Ende zu betrunken und zu verrückt, um sie noch länger daran zu hindern, Gottes Haus zu säubern.»
    «Nun ja, der Adler war weg, aber im Tempel selbst änderte sich nicht allzu viel. Miss Conch verströmte sich noch immer bei feierlichen Anlässen, und Mr. Stick war stets zur Hand, wenn ein Priester auf die Idee kam, in dem Eintopf von Sex und Sternen zu rühren. Er war gewissermaßen zu ihrer Kompassnadel geworden und wies nach Norden, von wo laut Aussage der Propheten der Messias zu erwarten war. Im Tempel wimmelte es nach wie vor von Geschäftemachern und korrupten Priestern. Erinnern Sie sich, in der