Salomes siebter Schleier (German Edition)
Bibel heißt es, Jesus habe eines Tages eine Peitsche genommen und die Geldwechsler hinausgejagt.»
«Da war Herodes aber schon tot.»
«Ja, er starb, als Jesus noch ein Kind war. Miss Shell und Mr. Stick können sich übrigens gar nicht an dieses Bürschlein erinnern. Ihrer Meinung nach hatte er bis vierzig Jahre nach seiner Kreuzigung kaum Einfluss in Jerusalem. Aber ich weiß, das interessiert Sie nicht. Was zählt, ist die Tatsache, dass die Lage für die Juden wirklich brenzlig wurde, nachdem Herodes weg war. Rom schlug zu. Die Juden leisteten Widerstand. Ein Schlag folgte dem anderen. Die Juden wehrten sich. Bis die Römer von dem ewigen Krach endlich die Nase voll hatten und im Jahre 70 des Herrn Jerusalem erneut dem Erdboden gleichmachten. Schon wieder! Können Sie sich das vorstellen? Die ganze Stadt kurz und klein schlugen. Eine Million Menschen umbrachten. Ein General namens Titus plünderte den Tempel, beraubte ihn all seiner Schätze und segelte mit reicher Beute nach Italien. Dort wurden die Schätze im sogenannten Friedenstempel öffentlich zur Schau gestellt. Von der Stadt des Friedens – Jerusalem – zum Friedenstempel im imperialistischen Rom. Menschen neigen dazu, das Wort
Frieden
ziemlich nachlässig zu gebrauchen, finden Sie nicht? Diese Missachtung der wahren Bedeutung von Begriffen wird wohl auch einer der Hauptgründe für ihre Hirnfäule sein. Habe ich Ihnen je meine Theorie erläutert …»
«Haben Sie, haben Sie, Ma’am/Sir», erklärte Spoon hastig. «Sehr einleuchtend. Doch bleiben wir beim Thema, wenn es Ihnen recht ist: Conch Shell und Painted Stick wurden nicht nach Rom entführt.»
«Sie gehörten zu der Art von Beute, die Militärs wie Titus gern übersehen.»
«Aber irgendwer hat sie dann doch gerettet.»
«Zum Glück. Ein Sklave aus Phönizien. Er hat sie aus den Tempelruinen mitgehen lassen und eiligst in die Wildnis geschafft. Miss Shell behauptet, irgendwo gäbe es immer ein paar erleuchtete menschliche Wesen, die sie brauchten. Selbst heute noch. Heute vielleicht mehr denn je. Deshalb sind sie und Mr. Shell auch wieder tätig. Ich weiß nicht, Miss Spoon, aber mir kommt das manchmal ein bisschen wie Wunschdenken vor. Magie und Erleuchtung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts? Diese verrückte Idee mit dem Dritten Tempel?»
«Herrje, der Dritte Tempel», piepste Miss Spoon, erleichtert, dass die Geschichtsstunde vorbei war. Sie hörte gern zu, wenn Can o’ Beans dozierte, aber die Version der biblischen Ereignisse, die Stock und Muschel der Dose geschildert hatten, war höchst beunruhigend. «Eigentlich wollten Sie mir doch erzählen, wie Sie sich den Dritten Tempel vorstellen.»
«Falls es je einen Dritten Tempel gibt», erwiderte Can o’ Beans.
Draußen auf der Fifth Avenue, im urbanen Getümmel und mondänen Gewimmel, waren Reverend Buddy Winkler und zwei koscher aussehende Herren an einem Hot-Dog-Karren stehen geblieben. Die anderen sahen zu, wie der Reverend seine goldenen Fänge in ein Frankfurter Würstchen schlug. «Ich sollte so was einklich nich essen», verkündete er und wischte sich mit einer Papierserviette von der Größe einer Spielkarte das Fett von den Lippen. «Hab gestern Abend ein Pfund Schweinerippchen verdrückt. Die war’n so fett, dass meine Arterien sich glatt selbständig gemacht haben. Als ich heut Morgen wach wurde, war’n sie schon munter und lasen Zeitung. ‹Verpiss dich›, ham sie zu mir gesagt. ‹Wir brauchen dich nich.› Dann ham sie weitergeblättert bis zum Börsenteil und die Kurse für Schweinebauch studiert.»
Die beiden Rabbis musterten ihn ungläubig. Dirty Sock musterte ihn ebenfalls. Die Socke meinte, dass Buddy ihr irgendwie bekannt vorkam. Doch noch bevor er das Gesicht hinreichend mit Colonial Pines und Boomer Petway in Verbindung gebracht hatte, kurvten der Priester und seine Begleiter schon die kühle Avenue hinab, ziellos treibende Flusen im dicken Schwall von Kaschmir und Pelz, den die elektrischen Muskeln der Metropole – «Rot! Gelb! Grün!» – im Rhythmus ihrer ferngesteuerten Pathologie ausspuckten oder verschluckten.
Dirty Sock wandte sich Turn Around Norman zu, der soeben wie ein gefrorener Planet seine tägliche Umlaufbahn um die dunkle Sonne eines Teerfleckens vor der Kathedrale begonnen hatte, und rief: «Hey, Leute! Der Junge ist wieder da! Beginn der Vorstellung!»
Seine Gefährten gaben keine Antwort. Can o’ Beans war immer noch dabei, wortreich über einen Dritten Tempel in
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