Salomes siebter Schleier (German Edition)
Verhör. Sie inspizierte ihre Seele wie ein Straßendieb die Taschen eines Betrunkenen. Und was sie fand, außer genügend Gefühlskleingeld, um jeden Verkaufsautomaten im populärpsychologischen Institut zu füttern, war ein Schnappschuss ihrer selbst, aufgenommen, bevor sie sich zur Künstlerin ausgerufen hatte. Das Bild war so alt, vergilbt und zerknittert, dass sie nicht sagen konnte, wonach sie darauf aussah.
Vielleicht hat Boomer recht
, dachte sie.
Recht nicht nur damit, dass ich ihn nicht wirklich liebe – Gott weiß, dass ich keinen Pinsel auf die Beständigkeit meiner Gefühle verwettet hätte –, sondern auch, dass ich in meiner Identität als Künstlerin so verloren bin, dass ich mein Herz nicht mal mehr mit Taschenlampe und Kompass wiederfinden würde. Auf alle Fälle hat er recht, wenn er sagt, dass ich mit der Kunst verheiratet bin. Hab ich ja auch nie geleugnet, aber zum ersten Mal im Leben muss ich mich fragen, ob das nicht vielleicht eine schlechte Ehe ist. Ob ich nicht so jung geheiratet habe, dass ich deswegen eine Menge anderer Sachen verpasst habe, Sachen, die mich an Orte geführt und mir Dinge gezeigt und mich auf eine Weise ganz und glücklich gemacht hätten, die ich mir nicht mal vorstellen kann. Hätte ich noch gewartet, vielleicht hätte ich mich dann nur hin und wieder mit der Kunst eingelassen, statt sie gleich zu heiraten, und vielleicht hätte ich schon längst nichts mehr mit ihr zu tun.
Sie hatte im vergangenen Jahr die Malerei aufgegeben, weil sie von der New Yorker Kunstszene enttäuscht war und mit Boomers Erfolg nicht fertig wurde. Das war eine negative Reaktion. Jetzt, so dachte sie, würde sie einen positiven Rückzug versuchen. Sie beschloss, mal auszutesten, was es für ein Gefühl war, nicht nur die Kunst an sich, sondern auch ihre Existenz als Künstlerin aufzugeben. Beiden aufrichtig und vollständig abzuschwören. Zur Abwechslung mal etwas anderes zu sein. Und da es momentan nur eine einzige andere Sache gab, die sie einigermaßen beherrschte, schrieb sie fünfhundertmal «Ich bin Kellnerin» auf die Wandtafel ihres Bewusstseins. Nicht «Ich bin Künstlerin/Kellnerin» oder «Ich bin eine Künstlerin, die vorübergehend kellnert», sondern «Ich bin Kellnerin».
Nach Thanksgiving, wenn er aus Jerusalem zurückgekehrt war, würde sie ihre neue Identität vielleicht an Boomer ausprobieren. Und schon morgen Spike und Mr. Hadee einweihen. Heute Nacht jedoch setzte sie Wimpy Popeyes Spinat vor, wälzte sich stöhnend im Bett hin und her und verträumte jede Chance auf ein Trinkgeld.
Um ihre Kellnerinnenmuskeln –
extensor hallucis, tendo calcaneus, tibialis anterior
– zu trainieren, ging Ellen Cherry am nächsten Morgen zu Fuß zur Arbeit. Auf dem eiskalten Marsch, während ihre Nase einen aus ihrem eigenen Atem gebildeten Spitzenvorhang nach dem anderen durchstieß, kam sie an zahllosen Kiosken und Zeitungsständen vorbei, und alle schienen die gleichen Tintenflaggen gehisst zu haben, die von weiterer Gewaltanwendung in Israel kündeten. Schreiend oder flüsternd, je nach Stil, berichteten die Zeitungen von Ausgangs- und Straßensperren, brennenden Autoreifen und plattgewalzten Küchen, Brautschleiern aus Tränengas und blutgetränkten Pullovern, berichteten von Anführern mit Zungen, die an ausgebrannte Blitze erinnerten, von mit Steinen gefüllten Wiegen und von jungen Mädchen, die mit scharfer Munition tanzten statt mit ihren Vätern (für die Jungs waren sie noch zu jung), berichteten von der alten Primatenregel: Zupacken und festhalten – diesem verrückten Affentanz, den die Anthropologen «territorialen Imperativ» und die Politiker «nationales Interesse» nennen, berichteten von der klaffenden Wunde, die viertausend Jahre nicht zu heilen vermocht hatten, dem wahnsinnigen Erbe von Isaak und Ishmael.
Ellen Cherrys Schicht, ihre letzte, so hoffte sie, als Maître d’, endete um drei, aber sie wartete noch auf Spike und Abu, die im Allgemeinen gegen Viertel nach vier vom Tennis zurückkamen. Sie wollte sie um eine Rückstufung bitten. Erstens war es albern, einen Tageschef in einem Restaurant zu haben, dessen Gästeschar zu Mittag bequem in die Wohnzelle eines Einsiedlers gepasst hätte. So wohlhabend Spike und Abu sein mochten, sie konnten es sich nicht leisten, ständig Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Wenn sie einwilligten und sie als Kellnerin arbeiten ließen, würden sie zweitens ihr Gehalt einsparen plus das der Angestellten, die sie
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