Salomes siebter Schleier (German Edition)
Küster die Tür offen stehen ließ, und das war seit anderthalb Jahren nicht der Fall gewesen, gab es für die Objekte nicht die geringste Aussicht, je wieder durch sie hinauszukommen.
Nun hätten sich Spoon, Dirty Sock und, wenn es ihm nichts ausmachte, noch ein bisschen mehr Farbe zu verlieren, auch Painted Stick durchs Fenstergitter zwängen können. Doch Conch Shell und Can o’ Beans waren zu breit, um mit den Maschen fertig zu werden. Diese beiden saßen in der Falle.
Schön und gut, immerhin hatten die Objekte ein wenig Zeit gebraucht, um sich auszuruhen und Pläne zu schmieden, und Conch Shell hatte Painted Stick davon überzeugt, dass Jerusalem des Dritten Tempels noch harrte, eine Tatsache, die Spoon mit der Wiederholung von Buddy Winklers Beschreibung des Felsendoms bestätigte. Doch Tempel hin, Tempel her, alle fünf brannten darauf, ihre Reise fortzusetzen, und die einzige Möglichkeit, dies zu bewerkstelligen, bestand darin, einen Menschen aufzutreiben, der ihnen die Türen öffnete oder das Fenstergitter aufstemmte.
Miss Charles wäre eine geeignete Kandidatin gewesen, aber es war Monate her, seit sie das letzte Mal vor der Kathedrale gestanden hatte, und Spoon hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie ihr Apartment wiederfinden sollte. Das hieß, dass sie sich auf Turn Around Norman konzentrieren mussten. Oder sich etwas ganz anderes einfallen lassen.
Es musste etwas ganz anderes sein, aus dem einfachen Grund, dass sich Turn Around Norman eines Nachmittags mitten in der Drehung plötzlich nach seiner Sammelbüchse bückte, seine höllisch blauen Augen aufblitzen ließ, die schwanengleichen Nüstern blähte, ein glitschiges Etwas aus seinem Dichtermund spie, auf dem Absatz des fleckigen Turnschuhs kehrtmachte und die Bühne der Fifth Avenue auf Nimmerwiedersehen verließ.
So plötzlich war der Abgang des Künstlers, dass er die Objekte völlig unvorbereitet traf, wenngleich ihnen im Rückblick klarwurde, dass sie ihn hätten kommen sehen müssen. Im Verlauf des Frühjahrs hatten sich immer mehr Prediger auf der Fifth Avenue eingefunden, ein aufgescheuchter Haufen lärmender Vögel, die aus einem dunklen rauen Land kamen. Mindestens vier hatten sich in Hörweite von St. Patrick’s niedergelassen, und zu allen Stunden des Tages konnten die Objekte ihre Elsternschreie hören. «Preiset den Herrn!», «Die Erlösung steht bevor!», «Bereut, denn das Ende ist nahe!», «Ihr Ausgeburten der Schlange, wie wollt ihr der Verdammnis der Hölle entgehen?»
Als das Warngeschrei an Lautstärke und Häufigkeit zunahm, musste Conch Shell Painted Stick immer wieder beteuern, dass es zum Standard theologischer Rhetorik gehörte und sich keineswegs um Verlautbarungen aus Jerusalem handelte. Um sie zu unterstützen, wies Can o’ Beans darauf hin, dass die Stimmen nur biblische Verse rezitierten oder abgedroschene Slogans nachplapperten. Keinem von ihnen war in den Sinn gekommen, dass die wachsende Zahl der Bürgersteig-Evangelisten Turn Around Norman auf die Nerven gehen, dass sie sein Timing unterbrechen, seine Konzentration stören oder den Kreisel, der sein Herz war, aus der Bahn werfen könnten. Schließlich war dieser Teil der Fifth Avenue schon immer ein lärmendes Pflaster gewesen. Überdies hatte ihn in der Vergangenheit weder die Konkurrenz der anderen Straßenkünstler noch der Spott der Zyniker aus der Ruhe bringen können.
Im späten Mai hatte sich der Sommer auf New Yorks Gesicht gesetzt – heiß, feucht, stickig, dumpf und drückend; und mit dem wärmeren Wetter war auch ein heißerer Prediger gekommen, ein ausgemergelter Mann in einem ziemlich teuer aussehenden Anzug. Sein Mund glänzte vor Gold, sein hungriges Gesicht war von Pusteln entstellt, und seine Stimme erinnerte an ein trauriges Saxophon. Dieser Mann klopfte keine amateurhaften Sprüche, sondern hielt ausgewachsene Predigten, weitschweifig, theatralisch, gekonnt aalglatt. Doch viel wichtiger: Er hatte sich offenkundig mit Absicht vor St. Patrick’s postiert, praktisch Schulter an Schulter mit dem ergreifenden Cherubim, der sich mit übernatürlicher Langsamkeit auf der Straße drehte.
Den größeren Teil der Woche hatte Turn Around Norman mit seiner Show weitergemacht und nicht den leisesten Hinweis darauf gegeben, dass der Eindringling seine innere Schale knackte. Dann aber – presto! – verschwand er von einem Augenblick auf den anderen und ließ die Objekte völlig verdutzt zurück. Und in mehr als einer Hinsicht
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