Salomes siebter Schleier (German Edition)
Sie all das Neue und Vielfältige widerspiegeln, das von den Institutionen der Menschheit anscheinend unterdrückt und verleugnet werden soll, in Wirklichkeit ein gefährlicher Agent der Wahrheit? Ich meine, ich weiß, dass Magier Sie bei ihren Zaubertricks benutzen, aber ist nicht kompromissloser Realismus Ihre eigentliche Stärke? Wenn die Menschen Institutionen schaffen, in denen sie die ungebärdigen Aspekte ihres eigenen Denkens zu unterdrücken lernen, sind dann Spiegel nicht so etwas Ähnliches wie Ritzen in den Festungsmauern? Sind Sie nicht Wegweiser, die von jeglicher Rationalität und Standardisierung wegführen? Denn ihr Burschen zeigt doch
alles
– Gut und Böse, Schönheit und Gemeinheit, Gleichgewicht und Unordnung – mit gleicher Schärfe. Oder bilde ich mir ein, Sie seien subversiv, während Sie in Wirklichkeit nur blasiert sind? Nichts für ungut, Sir, in beiden Fällen.»
«.nelläF nedieb ni ,riS ,tugnu …»
Oh, es war zwecklos, sich mit so einem Spiegel gepflegt unterhalten zu wollen. Ganz gleich, was man zu ihm sagte, er drehte einem einfach das Wort im Munde um.
Dieser besondere, halb erblindete Spiegel, der an einer feuchten Wand im Keller der St. Patrick’s Cathedral lehnte, hatte einst in einer Herrentoilette über der Apsis residiert. In seiner Blütezeit hatte er viele berühmte Gesichter in seinen flachen Händen gehalten. Politiker, Bonzen, Broadway-Stars. John F. Kennedy, Truman Capote, Rudolf Valentino und zahllose andere ebenso Schöne oder Mächtige. Doch ach, jetzt spiegelte er eine Dose Bohnen mit Schweinefleisch. Und was für eine jämmerliche Bohnendose, was für ein missgebildetes, gebeuteltes Häuflein Metall, von dem ein paar Fetzen des ehemaligen Etiketts herabhingen wie Troddeln von den Nippeln einer Stripperin.
Wenn die Blechdose sich vor ihrem Spiegelbild erschrak, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. Sie schien sogar recht aufgekratzt und von sich eingenommen. Der Grund für ihre Hochstimmung lag in dem Wissen, dass vier oder fünf Porträts von ihr existierten, wundervolle Ölgemälde, die sie in der Blüte ihrer Jahre darstellten. «Welche andere Bohnendose ist je auf diese Weise für die Nachwelt erhalten worden?», fragte Can o’ Beans. Es war eine rhetorische Frage. «Und sollte es meinem Porträt am Glanz, an der Eleganz des traditionellen Gesellschaftsporträts mangeln, umso besser. Ich bin ein modernes, proletarisches Symbol, und es trifft sich gut, dass ich in einem grellen, modernistischen Stil dargestellt bin.»
In den Wochen, seit er/sie von seinen/ihren Porträts erfahren hatte, war Can o’ Beans wieder und wieder vor den Spiegel getreten, während er/sie zuvor seinem/ihrem Spiegelbild stets ausgewichen war. «Es spielt keine Rolle mehr, dass ich ein Wrack bin», sagte er/sie zu dem Spiegelglas. «Ich bin unsterblich.» Dann aber, denn immerhin war er/sie äußerst sensibel, setzte er/sie hinzu: «Deshalb Kopf hoch, alter Freund, vergessen Sie Ihre blinden Flecken. Auch Sie werden vielleicht noch auf ganz unerwartete Weise zu neuem Leben erwachen.»
Wie Spoon war Can o’ Beans davon überzeugt, dass Ellen Cherrys Entscheidung, sie zu malen, ein Zeichen für eine besondere Einsicht, für eine vielversprechende Seelenverwandtschaft war. «Wenn wir uns nicht an Miss Charles wenden können», sagte er/sie, «dann wage ich zu behaupten, dass es gar niemanden gibt.»
Dirty Sock glaubte keine Sekunde daran. Weder die Nachricht von den Gemälden noch Spoons Beschreibung davon, wie Ellen Cherry sie in die Hand genommen und mit unglaublicher Konzentration betrachtet hatte, machten großen Eindruck auf ihn. «Die Tussi hat einfach ’ne Meise», sagte Dirty Sock. «Alle Künstler haben ’ne Meise.»
Normalerweise hätte Can o’ Beans sich jetzt vielleicht in einen Diskurs über die feine Linie zwischen Genie und Wahnsinn gestürzt, eine ebenso umstrittene Grenze wie jede x-beliebige im Nahen Osten. An diesem Tag jedoch hatte er/sie etwas anderes auf dem Herzen. «Andererseits verstehe ich nicht ganz, warum unsere ehrwürdigen Führer so beharrlich glauben, dass menschliche Unterstützung überhaupt wünschenswert oder notwendig sein soll. Bei allem Respekt für Miss Charles und Mr. Norman, das schien mir schon immer etwas fragwürdig, und nun, da Mr. Stick einen Weg zum Meer gefunden hat …»
«Seit er diesem Junkie den Arsch versohlt hat, macht mir der alte Stock den Eindruck, als hätt er ebenfalls ’ne Meise.»
Normalerweise
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