Salomes siebter Schleier (German Edition)
es im Süden, wo die Krinolinenunterröcke in ihren Truhen eingemottet lagen, so still und gedämpft wie Wolle. Man hörte es von einer Küste zur anderen, über majestätisch purpurrot gefärbten Gebirgen und fruchtbaren Ebenen. Was war es? Nun, es war das Geraschel Tausender von Kartoffelchipstüten, die aus den Supermarktregalen gezogen wurden; es war das Geraschel von Plastikbeuteln, in die Bier und Limonade und Literflaschen mit Hochprozentigem gepackt wurden; es war das Geraschel von Zeitungspapier, als die Leser eifrig nach hinten zur Sportseite blätterten; es war das Geraschel von Banknoten, als Eintrittskarten für das Vierzigfache ihres Wertes den Besitzer wechselten und insgesamt zweihundertsiebzig Millionen Dollar auf das eine oder andere der beiden professionellen Footballteams gesetzt wurden. Es war das hektische Geraschel der Super-Bowl-Woche, das die Seufzer der Obdachlosen, das Gestammel der Verrückten, das Todesröcheln der Aids-Kranken und die traurigen, schändlichen Nachrichten aus Israel alias Palästina ebenso übertönte wie das Motorbootgebrabbel glücklicher Kleinkinder, die Freudenschreie der Lotteriegewinner, das schmatzende Stöhnen der Liebenden, die Gebete der Unverbesserlichen und die Gesänge derer, die in Meditationszentren, in Holzhütten auf dem Lande und in mindestens einer Schublade mit Unterwäsche exotische Mantras wiederholten (und wiederholten); es übertönte sogar Geschäftsverhandlungen, Schulunterricht, Rap, Rock und Reggae, ganz zu schweigen von normalen Tischgesprächen. Das Geraschel sorgte dafür, dass Symphonieorchester Konzerte absagten, Bräute ihre Hochzeit verschoben und Leute, die das Pech hatten, am dreiundzwanzigsten Januar Geburtstag zu haben, jedermann verfluchten, der in diesem Jahr an sie dachte. Das Geraschel wurde desto lauter, je mehr die Woche ihrem Ende zustrebte, nicht nur in Amerika, sondern auch in zahllosen fremden Ländern, obwohl die Lautstärke in New Orleans, wo die Super Bowl ausgetragen werden sollte, natürlich noch größer war als, sagen wir, in Ouagadougou, wo Fans, die normalerweise Fulani oder Bobo sprachen, in den TV -Bars winziger tropischer Hotels saßen und
«Touchydown!»
schrien.
Ja, Hunderte von Konzerten, Hochzeiten, Geburtstagsfeiern und Politikerreden wurden tatsächlich verschoben, um nicht von der Super Bowl ausgestochen zu werden. Einhundertvierzig Millionen Amerikaner würden das Spiel sehen. Trotz des allgegenwärtigen Geraschels hatte Salome, die Bauchtänzerin aus dem Isaac & Ishmael’s, jenem Restaurant mit Jerusalem-Touch schräg gegenüber dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York, nicht nachgegeben. Sie würde um drei Uhr tanzen, und wer sie nicht verpassen wollte, würde zusehen, dass er kam. Die anderen konnten sich das Match ansehen, in einem zugigen Hinterhof auf Plastikstühle gefläzt, und dabei Möhrenschnitzel in Schalen mit faden Flüssigkeiten stippen, die kaum appetitlicher waren als
baba ghanoug
.
Ein Opfer des I & I-Dilemmas glaubte, die Lösung gefunden zu haben. «Eins haben wir übersehen, Leute», sagte er. «Ich meine, wie lange wird dieser Tanz der sieben Schleier dauern? Zwanzig Minuten? Länger nicht, da geh ich jede Wette ein. Also können wir ganz beruhigt sein, wisst ihr. Ich seh mir den Tanz an, und dann geh ich raus, um mir die letzten drei Viertel eines tollen Spiels inklusive Halbzeit anzugucken. Ich bezahle Dr. Farouk, damit er mir einen Platz frei hält.»
Shaftoe grinste hämisch. «Glaubst du etwa, du bist der Erste, der darauf gekommen ist? Farouk ist wahrscheinlich hingegangen und hat diesen Platz einem Dutzend Dummköppen wie dir verkauft. Er kommt aus diesem Teil der Welt, Mann. Er weiß, dass der Tanz stundenlang dauern kann. Und wenn du erst mal angefangen hast, hinzusehen, Baby, rührst du dich nicht vom Fleck, bis er zu Ende ist. Nicht für alles Geld der Welt.»
«Aber für die Super Bowl …»
Wieder grinste Shaftoe. «Scheiße! Was weißt du schon über Football? Ich –» Der Detective verstummte und kehrte zu seinem Bier zurück.
I & I
Salomes Freitagabendvorstellung war mehr als dürftig. Sie schlurfte übellaunig und zerstreut im Schneckentempo dahin und ließ zweimal ihr Tamburin fallen. Wiederholt warf sie einen Blick auf das Wandgemälde hinter sich, aber es vermochte sie weder zu entspannen noch zu inspirieren. Am Samstagabend, als New Orleans, New York und mindestens eine weitere amerikanische Stadt sich praktisch in eine einzige
Weitere Kostenlose Bücher