Salomes siebter Schleier (German Edition)
zu.
Mittlerweile bewegte sich Ellen Cherry nur noch im Zeitraffer, wie eine Slapstickfigur in einem Stummfilm. Speise- und Getränkebestellungen umbrandeten sie wie Gischt die «Klippen der ertrunkenen Kellnerin». In ihrer gesamten gastronomischen Laufbahn hatte sie noch nie in einem solchen Tempo gearbeitet.
«Himmel noch mal!», rief sie irgendwann. «Wenn das so weitergeht, könnt ihr mich heute Abend als medizinische Altlast wegschmeißen. Oder gleich im Bellevue in den Verbrennungsofen stecken.»
Doch es ging nicht so weiter. Ellen Cherry sollte noch feststellen, dass die Fans im Hinterhof zwar während der gesamten Super Bowl genüsslich weiter mampften und tranken, drinnen jedoch die Nachfrage abrupt verebbte. Als der erste Schleier gefallen war, bat praktisch niemand mehr um irgendetwas, außer um Erbarmen.
Um 14.54 Uhr ertönte ein Aufschrei draußen auf der United Nations Plaza. Die Feiernden im I & I zuckten zusammen und reckten die Hälse, um zu sehen, was los war. Jede Menge Gläser wurden dabei umgestoßen. Hörte sich an wie ein Hexenkessel da draußen. Im Speiseraum dagegen war es still und gespannt. Um 14.55 Uhr stieß ein Wachmann die Eingangstür auf und bellte das Wort «koksaghyz», gefolgt von «megakaryoblast», ins Restaurant.
Genauso sahen sie aus, Salome und ihre Anstandsdame: wie unbekannte Wörter auf einem Straßenschild oder einer Seite, über die sich ein Leser nur wundern, die er aber weder verstehen noch aussprechen konnte. Viele im I & I blätterten durch die Taschenwörterbücher ihrer Lebenserfahrung und suchten nach Bedeutungen, mit denen sie etwas anfangen konnten. Aber wäre «koksaghyz» auch nur eine Spur weniger exotisch gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass es ein in Zentralasien vorkommender Löwenzahn war? Und zu wissen, dass ein «Megakaryoblast» schlicht ein unreifer Megakaryozyt war, half ihnen auch nicht viel weiter. Besser war es vielleicht, die Wörter als das zu nehmen, was sie waren, und es den Sinnen zu überlassen, mit ihnen fertig zu werden, oder dem Hirnstamm. Die Vernunft war da nur im Weg. Ein besseres Wort für die Anstandsdame, die ihre Ellbogen gebrauchte und ihren Hundesarg von Handtasche schwang, um sich durch die Menge zu drängen, wäre möglicherweise «entobell» gewesen. Zumindest hatte man bei «entobell» eine vage Vorstellung von ihrem watschelnden Gang und ihrem lautstarken Protestgeschrei.
Doch halten wir uns nicht mit diesem megakaryoblastisch-entobellen Ungeheuer auf. Kaum hatte es seinen Schützling zum Podium geleitet, verschwand es hinter dem Orchester und geriet sofort in Vergessenheit. Aller Augen ruhten auf dem «koksaghyz», der da zart, einsam und zitternd im Rauch stand. Und da wir gerade von Augen sprechen, die Augen waren fast alles, was man von ihr sah. Denn Salome war so dicht in hauchdünne purpurrote Seidentücher gehüllt, dass nur ihre Hände, ihre bloßen Füße und die Augen sichtbar waren. Alle Ringe, Glöckchen und Kettchen waren von ihren Gliedmaßen verschwunden, und ihre Augen – zwei Gläschen warmen Hershey-Sirups – zeigten Anzeichen von Anopie, mit anderen Worten, waren krampfhaft nach oben verdreht (man stelle sich die himmelwärts verdrehten Augäpfel von Erstsündern oder die traumatischen Posen von El Grecos Heiligen vor). So stand sie da und zappelte, unsere nervöse «koksaghyz», starrte an die Decke, von der der Bambus geflüchtet war, stand da, eingehüllt wie ein Schneckenmuschel-Burrito in Tücher in den purpurroten Farbtönen von Kanaan/Phönizien, stand minutenlang da, kratzte sich am Hintern, betrachtete den frischen Putz an den Wänden, bis um Punkt drei Uhr, genau in dem Moment, als der Zeh des New Yorker Kickers die eiförmige Flanke des jungfräulichen Footballs berührte, das Orchester ihr Lied anstimmte.
Zum ersten Mal betrachtete Salome ihr Publikum. Der französische Staatssekretär zwinkerte ihr zu, und Shaftoe hielt den Atem an. Zwei von dreien aller Gesichter, die zurückblickten, waren männlich. Zwar hatten sie sie der Super Bowl vorgezogen, doch waren die meisten trotzdem von den gesunden Interessen ihres Geschlechts geprägt: Besitzgier, Profitstreben und Konkurrenzdenken. Salome wandte sich langsam dem Wandgemälde zu, das eine eher weibliche Sensibilität widerspiegelte: eine freie, poetische Improvisation zum Thema jahreszeitliche Erneuerung. Ohne dass das Publikum es richtig wahrnahm, stieß sie ein leises, sanftes Geheul aus. Schüttelte ihr
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