Salto mortale
rauschten. Meister Wäspi nagelte eben
einen Kindersarg zusammen. Er erkannte die
Knaben durch seine Hornbrille auf den ersten
Blick wieder und rief, sich an seine alten Späße
erinnernd, wohlgelaunt: „He, Heinz, soll ich
dir den Frack da anziehen? Er ist dir wie an-
gemessen!“ Er lachte dazu, der Knabe aber er-
schauderte und eilte zur Mutter hinauf.
Den ganzen Tag war er still und gedrückt,
der Anblick des Sarges und die Worte des Tisch-
lers hatten durch eine verborgene Verkettung
in ihm die Furcht wieder wachgerufen, die ihn
am Abend zuvor gepackt hatte, als Franz das
Lied der Seiltänzerin sang, und die seither lau-
ernd in ihm gelegen hatte: die Furcht, das Herz
seiner Mutter zu verlieren. Er hatte sie so lieb,
und nun bohrte die Angst in ihm, des Kleinen
Überlegenheit könne ihr nicht lange verborgen
sein, dann werde sie es halten wie Signor Ercole
und alle andern: Franz bevorzugen, mit zärtli-
cheren Blicken ansehen, mit herzhafteren Ar-
men umfangen, und ihm, dem Ältern nur das
schenken, was der in Überfluß Schwimmende
verschmähte. Von den andern Leuten konnte
er das zur Not ertragen, aber von der Mutter!
Wie würde das erst werden, wenn sie Franz auf
der Bühne gesehen hatte!
Mehr als einmal faßte er den Entschluß,
ihr seine Angst zu gestehen, ihr die Bitte ans
Herz zu legen, ihn nicht, ihn nie minder lieb
zu haben als Franz; aber die Worte blieben
ihm jedesmal im Halse stecken. Wie hätte er
sie wenden sollen? Leute von seiner Art haben
sieben mal sieben Siegel am Mund oder am
Herzen und gehen eher zugrund, als daß sie ei-
nes erbrächen. Und dann war noch etwas, das
ihn abhielt. Er hörte in sich beständig einen
Vorwurf raunen, er fühlte, daß etwas Unlaute-
res in ihm Platz genommen hatte: der immer
wieder auftauchende, aller Abwehr trotzende
Neid gegen den Bruder, der ihm doch nichts
als Liebes erwies, und den er selber doch im
Grunde so ehrlich gern hatte.
Am Abend sollte die Mutter ihre Buben
im Glanz der Theaterlampen erblicken. Signor
Ercole hatte ihr einen Platz in der vordersten
Reihe verschafft, damit sie ja alles recht deut-
lich sehe. Erwartungsvoll, mit leise pochendem
Herzen saß sie da, den Blick auf den mit Rekla-
men aller Art bemalten Vorhang gerichtet, hin-
ter dem sie ihre Kinder wähnte. Es kam ihr al-
les wie ein Traum vor. Ihre und ihres Wilhelm
Knaben waren Künstler geworden und ver-
dienten Geld wie Männer, und mehr! Und um
ihretwillen waren all die Leute, die den Saal
füllten, hergekommen! Sie wagte kaum den
Hals zu drehen, aus Furcht, der Glückstraum
möchte zerrinnen.
Streifte sie aber mit den Blicken das schöne
Kleid, das sie trug, die feinen Handschuhe, die
ihr Herr Valentin Häberle, ihr Bräutigam, ver-
ehrt und an die Hände gezogen hatte, so muß-
ten ihre Zweifel schwinden: wie wäre sie zu
diesen Dingen gekommen ohne das Glück der
Kinder? Und ohne ihn, den Herrn Direktor?
Was für ein Mann war er doch? Ja, der hielt die
silbernen Brücken und goldenen Berge, die er
versprach.
Eine Klingel erschallte, durch den Saal ging
eine Bewegung, ein Sichzurechtrücken, ein
schnelles Abhaspeln des begonnenen Satzes,
ein Klappen und Knarren von Sitzen, auf die
sich eine Last niederließ. Der Vorhang ging
langsam in die Höhe. Frau Seline spürte ihr
Herz pochen. Aber sie war enttäuscht. Sie
hatte erwartet, gleich ihre Knaben zu sehen,
und erblickte statt ihrer ein rundes Weinge-
sicht, das lärmend und von einer knallenden
Peitsche umsaust durch eine Seitentüre herein-
kugelte und ein halbes Dutzend Spanferkel vor
sich her trieb. Und nun nahm die Kunst ihren
Anfang. Unter den beständigen Zurufen des
Weingesichtes bemühten sich die Schweinchen
menschlichen Verstand und turnerische Bil-
dung zu zeigen, ihre natürliche Stimme, auch
wenn die Peitsche ihnen um die Ohren zischte,
zu bemeistern, ihre angehenden Speckbäuche
auf den zu klein geratenen Beinen so zierlich
als möglich zu bewegen. Sie verschwanden
und der Saal klatschte.
Frau Seline rührte ihre Hände nicht. Wie?
Ihre Krausköpfe in Gesellschaft dieser sechs
Grunzschnauzen? Ihr mütterlicher Stolz em-
pörte sich, sie warf den klatschenden Nachbarn
verächtliche Blicke zu.
Nach den Schweinchen wurden Gänse,
dann Störche, Hunde, Affen hereingetrieben
und endlich kamen, wie in der Schöpfungsge-
schichte, Menschen zum Vorschein, Schwarz-
häute, die bei einer betäubenden Musik ihre
halbnackten Leiber
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