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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Bosshart
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rauschten. Meister Wäspi nagelte eben
    einen Kindersarg zusammen. Er erkannte die
    Knaben durch seine Hornbrille auf den ersten
    Blick wieder und rief, sich an seine alten Späße
    erinnernd, wohlgelaunt: „He, Heinz, soll ich
    dir den Frack da anziehen? Er ist dir wie an-
    gemessen!“ Er lachte dazu, der Knabe aber er-
    schauderte und eilte zur Mutter hinauf.
    Den ganzen Tag war er still und gedrückt,
    der Anblick des Sarges und die Worte des Tisch-
    lers hatten durch eine verborgene Verkettung
    in ihm die Furcht wieder wachgerufen, die ihn
    am Abend zuvor gepackt hatte, als Franz das
    Lied der Seiltänzerin sang, und die seither lau-
    ernd in ihm gelegen hatte: die Furcht, das Herz
    seiner Mutter zu verlieren. Er hatte sie so lieb,
    und nun bohrte die Angst in ihm, des Kleinen
    Überlegenheit könne ihr nicht lange verborgen
    sein, dann werde sie es halten wie Signor Ercole
    und alle andern: Franz bevorzugen, mit zärtli-
    cheren Blicken ansehen, mit herzhafteren Ar-
    men umfangen, und ihm, dem Ältern nur das
    schenken, was der in Überfluß Schwimmende
    verschmähte. Von den andern Leuten konnte
    er das zur Not ertragen, aber von der Mutter!
    Wie würde das erst werden, wenn sie Franz auf
    der Bühne gesehen hatte!
    Mehr als einmal faßte er den Entschluß,
    ihr seine Angst zu gestehen, ihr die Bitte ans
    Herz zu legen, ihn nicht, ihn nie minder lieb
    zu haben als Franz; aber die Worte blieben
    ihm jedesmal im Halse stecken. Wie hätte er
    sie wenden sollen? Leute von seiner Art haben
    sieben mal sieben Siegel am Mund oder am
    Herzen und gehen eher zugrund, als daß sie ei-
    nes erbrächen. Und dann war noch etwas, das
    ihn abhielt. Er hörte in sich beständig einen
    Vorwurf raunen, er fühlte, daß etwas Unlaute-
    res in ihm Platz genommen hatte: der immer
    wieder auftauchende, aller Abwehr trotzende
    Neid gegen den Bruder, der ihm doch nichts
    als Liebes erwies, und den er selber doch im
    Grunde so ehrlich gern hatte.
    Am Abend sollte die Mutter ihre Buben
    im Glanz der Theaterlampen erblicken. Signor
    Ercole hatte ihr einen Platz in der vordersten
    Reihe verschafft, damit sie ja alles recht deut-
    lich sehe. Erwartungsvoll, mit leise pochendem
    Herzen saß sie da, den Blick auf den mit Rekla-
    men aller Art bemalten Vorhang gerichtet, hin-
    ter dem sie ihre Kinder wähnte. Es kam ihr al-
    les wie ein Traum vor. Ihre und ihres Wilhelm
    Knaben waren Künstler geworden und ver-
    dienten Geld wie Männer, und mehr! Und um
    ihretwillen waren all die Leute, die den Saal
    füllten, hergekommen! Sie wagte kaum den
    Hals zu drehen, aus Furcht, der Glückstraum
    möchte zerrinnen.
    Streifte sie aber mit den Blicken das schöne
    Kleid, das sie trug, die feinen Handschuhe, die
    ihr Herr Valentin Häberle, ihr Bräutigam, ver-
    ehrt und an die Hände gezogen hatte, so muß-
    ten ihre Zweifel schwinden: wie wäre sie zu
    diesen Dingen gekommen ohne das Glück der
    Kinder? Und ohne ihn, den Herrn Direktor?
    Was für ein Mann war er doch? Ja, der hielt die
    silbernen Brücken und goldenen Berge, die er
    versprach.
    Eine Klingel erschallte, durch den Saal ging
    eine Bewegung, ein Sichzurechtrücken, ein
    schnelles Abhaspeln des begonnenen Satzes,
    ein Klappen und Knarren von Sitzen, auf die
    sich eine Last niederließ. Der Vorhang ging
    langsam in die Höhe. Frau Seline spürte ihr
    Herz pochen. Aber sie war enttäuscht. Sie
    hatte erwartet, gleich ihre Knaben zu sehen,
    und erblickte statt ihrer ein rundes Weinge-
    sicht, das lärmend und von einer knallenden
    Peitsche umsaust durch eine Seitentüre herein-
    kugelte und ein halbes Dutzend Spanferkel vor
    sich her trieb. Und nun nahm die Kunst ihren
    Anfang. Unter den beständigen Zurufen des
    Weingesichtes bemühten sich die Schweinchen
    menschlichen Verstand und turnerische Bil-
    dung zu zeigen, ihre natürliche Stimme, auch
    wenn die Peitsche ihnen um die Ohren zischte,
    zu bemeistern, ihre angehenden Speckbäuche
    auf den zu klein geratenen Beinen so zierlich
    als möglich zu bewegen. Sie verschwanden
    und der Saal klatschte.
    Frau Seline rührte ihre Hände nicht. Wie?
    Ihre Krausköpfe in Gesellschaft dieser sechs
    Grunzschnauzen? Ihr mütterlicher Stolz em-
    pörte sich, sie warf den klatschenden Nachbarn
    verächtliche Blicke zu.
    Nach den Schweinchen wurden Gänse,
    dann Störche, Hunde, Affen hereingetrieben
    und endlich kamen, wie in der Schöpfungsge-
    schichte, Menschen zum Vorschein, Schwarz-
    häute, die bei einer betäubenden Musik ihre
    halbnackten Leiber

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