Salto mortale
sie unversehens wieder hinein,
mit leichtem aber vergiftetem Finger, mit jener
altererbten Grausamkeit, die man oft an Kin-
dern beobachten kann:
„Ich seh’ Freschino so gern zu, wenn er sei-
nen Salto mortale macht.“
„Gestern, als ich auf dem Seil stand, hab’ ich
auf einmal an dich denken müssen! Ich muß oft
an dich denken, wenn ich auf dem Seil gehe.“
„Weißt du, was an euch beiden so spaßig ist?
Wenn einer stürb’ oder ein Bein bräch’, nach-
her wär’s aus, da könnt’ der andere auch nichts
mehr machen.“
So trieb sie monatelang ihr Spiel mit dem
waffenlosen Jungen, ihn anziehend und zu-
rückstoßend, sich an seinem Gesichte weidend,
wenn es sich unter ihrem Hieb schmerzlich
verzog, ihm eine Stunde oder einen Tag lang
schmeichelnd, um zwei Sekunden lang mit den
Nägeln in seiner Seele zu wühlen.
Einmal, als sie ihm wieder einen ihrer gif-
tigen Nadelstiche versetzt hatte, fuhr er auf sie
los und bläute sie jämmerlich durch. Sie wehrte
sich nicht, sie trug es wie ein Lamm, als wüßte
sie, daß sie ihn so noch mehr in ihre Gewalt
bekäme. Und so war es. Bei der Rauferei war
ihm ein Büschel von ihren Flachshaaren in den
Händen geblieben, das hatte ihm einen gan-
zen Schreck eingejagt. Er hatte von da an ihr
gegenüber stets ein unsicheres Gewissen, und
dies um so mehr, als sie verschmäht hatte, ihn
zu verklagen. Demütigte sie ihn, so wagte er
nicht mehr von seinen Fäusten Gebrauch zu
machen; zankte er sich mit ihr, so brauchte sie
ihn nur an jene Handvoll Haare zu erinnern,
um ihm den Mund zu schließen.
Die Vorstellungen, denen Heinz sich früher
mit Leidenschaft hingegeben hatte, wurden
ihm nach und nach zu einer uneingestandenen
Qual. Er beobachtete die zuschauende Menge
mit argwöhnischen Augen und gewahrte im-
mer deutlicher, daß er für sie Luft war oder, wie
Bianca sagte, das Seil des Kleinen. Auch fiel ihm
nun auf, daß selbst Signor Ercole zwischen ihm
und seinem Bruder einen Unterschied machte,
für Franz ganz andere Blicke, andere Worte,
eine weichere Stimme, eine sanftere Hand, ein
freundlicheres Nicken, ein herzlicheres Lächeln
hatte. Er fing an, dem Manne zu mißtrauen,
ihn zu belauern, eine Waffe gegen ihn zu su-
chen, und es kam eine boshafte Freude über
ihn, als er ihn eines Tages überraschte, wie er
im Treppenhause mit Biancas üppiger Schwe-
ster, einem Mädchen von achtzehn Jahren, tän-
delte. Es war freilich nur ein flüchtiger Blick,
nicht viel mehr als ein Schatten an der Wand
gewesen, aber der Eindruck haftete und nahm,
weil er Heinz willkommen war, feste Umrisse
an. Der Junge wußte, daß der Mann mit seiner
Mutter verlobt war, und sein gerader Sinn gab
ihm ein, daß da ein Unrecht und eine Treulo-
sigkeit gesponnen würden. Von da an haßte er
ihn und um so erbitterter, da er keine neuen
Beweise erlauerte. Nach und nach verkehrte
sich das gesunde, offene Wesen des armen Jun-
gen in sein Gegenteil: das Rot wich von seinen
Backen, er aß ohne Lust, war verschlossen, fast
immer mißmutig und störrisch und nur dann
zufrieden, wenn er mit Franz allein, ganz al-
lein war und sie miteinander spielten oder vom
‚Sack‘ und der Schlauchgasse plauderten, an die
Mutter und an ihr sonniges Lugüberdach mit
den zwei Azalien dachten, durch deren Blät-
ter und Blüten man über die Häuser weg zu
den silbernen Schneebergen und in das blaue
Leuchten des Himmels sah.
Die drückendsten Stunden aber durchlitt er,
wenn er sich vor der bösen Zunge der Seiltän-
zerin in seiner Herbergkammer verkroch, um
eine der Geschicklichkeiten zu lernen, die dem
Kleinen so viel Ehre eintrugen und ihm nie
gelingen wollten. Da rann oft dem vom Ehr-
geiz Verfolgten die Qual bitter aus den Augen,
während drunten im Hof oder Garten Bianca
mit Franz spielte, ihm jeden Wunsch aus den
Augen las und ihm ihr Lied trällerte, wohl wis-
send, daß es auch der Ältere hören würde:
„Treu und herzinniglich, Robin Adair …“
Das war ihm zuviel, er wusch sich dann
rasch die Augen lauter, stürmte hinab und ent-
riß seinen Liebling der Natter, die er zu hassen
meinte, und deren Knecht er tags darauf doch
wieder wurde.
Und mit dem Kummer im einfältigen Kna-
benherzen mußte er eine Stunde später in den
Vorstellungssaal treten, den Leuten ein freund-
liches Gesicht zuwenden, lächeln, wenn es ihm
ums Weinen oder Zürnen war, einen Knicks
machen, obschon er wußte, daß der Beifall
nicht dem
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