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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Bosshart
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sie unversehens wieder hinein,
    mit leichtem aber vergiftetem Finger, mit jener
    altererbten Grausamkeit, die man oft an Kin-
    dern beobachten kann:
    „Ich seh’ Freschino so gern zu, wenn er sei-
    nen Salto mortale macht.“
    „Gestern, als ich auf dem Seil stand, hab’ ich
    auf einmal an dich denken müssen! Ich muß oft
    an dich denken, wenn ich auf dem Seil gehe.“
    „Weißt du, was an euch beiden so spaßig ist?
    Wenn einer stürb’ oder ein Bein bräch’, nach-
    her wär’s aus, da könnt’ der andere auch nichts
    mehr machen.“
    So trieb sie monatelang ihr Spiel mit dem
    waffenlosen Jungen, ihn anziehend und zu-
    rückstoßend, sich an seinem Gesichte weidend,
    wenn es sich unter ihrem Hieb schmerzlich
    verzog, ihm eine Stunde oder einen Tag lang
    schmeichelnd, um zwei Sekunden lang mit den
    Nägeln in seiner Seele zu wühlen.
    Einmal, als sie ihm wieder einen ihrer gif-
    tigen Nadelstiche versetzt hatte, fuhr er auf sie
    los und bläute sie jämmerlich durch. Sie wehrte
    sich nicht, sie trug es wie ein Lamm, als wüßte
    sie, daß sie ihn so noch mehr in ihre Gewalt
    bekäme. Und so war es. Bei der Rauferei war
    ihm ein Büschel von ihren Flachshaaren in den
    Händen geblieben, das hatte ihm einen gan-
    zen Schreck eingejagt. Er hatte von da an ihr
    gegenüber stets ein unsicheres Gewissen, und
    dies um so mehr, als sie verschmäht hatte, ihn
    zu verklagen. Demütigte sie ihn, so wagte er
    nicht mehr von seinen Fäusten Gebrauch zu
    machen; zankte er sich mit ihr, so brauchte sie
    ihn nur an jene Handvoll Haare zu erinnern,
    um ihm den Mund zu schließen.
    Die Vorstellungen, denen Heinz sich früher
    mit Leidenschaft hingegeben hatte, wurden
    ihm nach und nach zu einer uneingestandenen
    Qual. Er beobachtete die zuschauende Menge
    mit argwöhnischen Augen und gewahrte im-
    mer deutlicher, daß er für sie Luft war oder, wie
    Bianca sagte, das Seil des Kleinen. Auch fiel ihm
    nun auf, daß selbst Signor Ercole zwischen ihm
    und seinem Bruder einen Unterschied machte,
    für Franz ganz andere Blicke, andere Worte,
    eine weichere Stimme, eine sanftere Hand, ein
    freundlicheres Nicken, ein herzlicheres Lächeln
    hatte. Er fing an, dem Manne zu mißtrauen,
    ihn zu belauern, eine Waffe gegen ihn zu su-
    chen, und es kam eine boshafte Freude über
    ihn, als er ihn eines Tages überraschte, wie er
    im Treppenhause mit Biancas üppiger Schwe-
    ster, einem Mädchen von achtzehn Jahren, tän-
    delte. Es war freilich nur ein flüchtiger Blick,
    nicht viel mehr als ein Schatten an der Wand
    gewesen, aber der Eindruck haftete und nahm,
    weil er Heinz willkommen war, feste Umrisse
    an. Der Junge wußte, daß der Mann mit seiner
    Mutter verlobt war, und sein gerader Sinn gab
    ihm ein, daß da ein Unrecht und eine Treulo-
    sigkeit gesponnen würden. Von da an haßte er
    ihn und um so erbitterter, da er keine neuen
    Beweise erlauerte. Nach und nach verkehrte
    sich das gesunde, offene Wesen des armen Jun-
    gen in sein Gegenteil: das Rot wich von seinen
    Backen, er aß ohne Lust, war verschlossen, fast
    immer mißmutig und störrisch und nur dann
    zufrieden, wenn er mit Franz allein, ganz al-
    lein war und sie miteinander spielten oder vom
    ‚Sack‘ und der Schlauchgasse plauderten, an die
    Mutter und an ihr sonniges Lugüberdach mit
    den zwei Azalien dachten, durch deren Blät-
    ter und Blüten man über die Häuser weg zu
    den silbernen Schneebergen und in das blaue
    Leuchten des Himmels sah.
    Die drückendsten Stunden aber durchlitt er,
    wenn er sich vor der bösen Zunge der Seiltän-
    zerin in seiner Herbergkammer verkroch, um
    eine der Geschicklichkeiten zu lernen, die dem
    Kleinen so viel Ehre eintrugen und ihm nie
    gelingen wollten. Da rann oft dem vom Ehr-
    geiz Verfolgten die Qual bitter aus den Augen,
    während drunten im Hof oder Garten Bianca
    mit Franz spielte, ihm jeden Wunsch aus den
    Augen las und ihm ihr Lied trällerte, wohl wis-
    send, daß es auch der Ältere hören würde:
    „Treu und herzinniglich, Robin Adair …“
    Das war ihm zuviel, er wusch sich dann
    rasch die Augen lauter, stürmte hinab und ent-
    riß seinen Liebling der Natter, die er zu hassen
    meinte, und deren Knecht er tags darauf doch
    wieder wurde.
    Und mit dem Kummer im einfältigen Kna-
    benherzen mußte er eine Stunde später in den
    Vorstellungssaal treten, den Leuten ein freund-
    liches Gesicht zuwenden, lächeln, wenn es ihm
    ums Weinen oder Zürnen war, einen Knicks
    machen, obschon er wußte, daß der Beifall
    nicht dem

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