Salto mortale
gestellt: ihm galten die
Blicke und Zurufe, ihm das ängstlich-glück-
liche Lächeln der Mutter. Er hätte in Tränen
ausbrechen mögen, er merkte, daß sich sein
Gesicht verzerrte, und er neben dem Bruder
häßlich aussah.
Franz riß ihn aus seinem Brüten und führte
ihn zu der Treppe zurück. Die beiden faßten
sich bei den Händen und der Kleine schwang
sich, wie von unsichtbaren Schnellfedern geho-
ben, Kopf unten, Füße oben, in die Höhe, über
den Scheitel des Bruders, der ihn mit seinen
kräftigen Armen stützte und dann langsam
senkte, bis ihre Scheitel sich berührten. Die
Hände ließen sich los, Franz stand mit dem
Kopf frei auf dem Kopfe des Bruders, sich, wie
es schien mühelos, im Gleichgewicht haltend,
und wurde in dieser halsbrecherischen Lage
von Heinz über die Treppe und zurück getra-
gen. Die Zuschauer trauten ihren Augen nicht,
sie wagten kaum zu atmen, aus Furcht, der
kleinste Hauch könnte den Wagehals aus dem
Gleichgewicht und zu Fall und Elend bringen.
Die Mutter schloß die Augen, das Herz stockte
ihr, sie erwartete in Todesängsten einen Schlag
auf der Bühne und einen gräßlichen Schrei …
Die Knaben langten wieder vorn an der
Rampe an, Franz stützte seine Arme dem
Bruder auf die Schultern, stemmte sich in die
Höhe und setzte in einem Purzelbaum auf den
Boden.
Der Saal atmete wie eine einzige Riesen-
brust, die am Ersticken war, erleichtert und
geräuschvoll auf, dann brauste es der Bühne
entgegen, wie noch nie den ganzen Abend.
Nach der überstandenen Angst kam ein
Taumel über die Mutter, sie klatschte wie
wahnsinnig und schrie „Bravo!“ und hätte am
liebsten in den tosenden Saal hineingerufen:
„Schaut mich an! Das ist mein Bub’ und ich bin
seine Mutter!“
Der Raum wurde wieder still. Auf der
Bühne war ein eiserner Apparat angebracht, an
dem man eine Stange, die oben in Mannshöhe
eine wagrechte Scheibe trug, und eine Kurbel
unterscheiden konnte. Auf der Scheibe hatte
sich Heinz auf die Hände gestellt. Signor Er-
cole rückte ein Leiterchen herbei, an welchem
Franz flink wie eine Katze emporkletterte.
Oben angelangt, legte er die Hände flach auf
des Bruders Fußsohlen und erhob sich dann
mit langsamer, sicherer Bewegung empor zum
Hochstand, so daß nun beide Knaben in glei-
cher Stellung, Kopf unten, Füße oben, sich
übereinandertürmten, der eine mit den Hän-
den auf der Eisenplatte, der andere hoch oben
auf des Bruders aufragenden Füßen stehend.
„Das ist Gott versucht!“ rief eine Frauen-
stimme mitten aus dem Zuschauerraum und
sprach aus, was den meisten auf den Lippen
war.
Signor Ercole aber griff, nachdem er die
Leiter an eine Wand gelehnt, lächelnd nach
der Kurbel und begann sie langsam zu drehen,
und damit drehte er die Eisenplatte und das
Brüderpaar, das darüber schwebte, und das bei
jeder Blutwelle, die aus dem Herzen getrieben
wurde, leicht erbebte.
Das Haus wurde unruhig, manche erhoben
sich in der Aufregung von ihren Sitzen, andere
hielten die Hände vor die Augen oder machten
ihrer Beklemmung Luft, indem sie abgebro-
chene Worte und Silben ausstießen.
Als auf der Bühne die Scheibe ihre Drehung
vollendet hatte, wechselte Franz seine Stellung,
indem er sich aufrecht auf seines Bruders Füße
stellte. Die Zuschauer wurden ruhiger, das war
doch nicht mehr so grausig wie zuvor. Sie hat-
ten zu früh aufgeatmet, neues Entsetzen malte
sich auf allen Gesichtern: Franz bog sich in
Nacken und Kreuz zurück, langsam, immer
tiefer, bis das Hinterhaupt fast den Rücken
berührte und es schien, man habe ihn in der
Mitte des Leibes gefaltet. Wie er tief unter
sich den Boden erblickte, überschlug er sich,
setzte auf den Teppich, der dort ausgebreitet
lag, und lächelte vergnügt dem Zuschauer-
raum und den entsetzten Gesichtern zu. Das
war sein berühmter Salto mortale, der ihm so
viel Ruhm eintrug, um den ihn sein Bruder so
oft beneidete.
Als das Wagnis zum guten Ende geführt
war, machte das Entsetzen lärmendem Jubel
Platz. Betäubend erschallte der Saal, Blumen
flogen dem kleinen Wagehals zu, um dessen
Leben man eben noch gezittert hatte, der wäh-
rend einer unendlich langen Minute alle bis in
die Seele hinein hatte erstarren lassen.
„Bis! Bis!“ fing es in einer Ecke zu gellen an.
„Nein! nein!“ antwortete die Furcht aus einer
andern. Und nun begann ein Kampf der „Bis“
und der „Nein“, und wogte, bis die letztern in
der Brandung
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