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Salto mortale

Salto mortale

Titel: Salto mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Bosshart
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‚Seil ‘ galt, die Muskeln wie Stahlbän-
    der straffen, wenngleich die in ihm wühlende
    Verdrossenheit ihm fast alle Kraft verzehrte.
    „Schau freundlicher drein!“ flüsterte neben
    ihm mit seiner milden falschen Stimme Signor
    Ercole. Der Knabe aber hätte am liebsten eine
    Grimasse geschnitten, mit den Füßen gestampft
    und die Hände geballt, das Publikum und den
    Herrn Direktor mit der Zunge begrüßt.
    Und wenn er von der Bühne entwischte,
    stieß er sicherlich auf die kleine Seiltänzerin,
    die in ihrem schillernden Seidenkleidchen, mit
    ihren niedlichen roten Schuhen und ihrem
    wallenden Märchenhaar kokettierte, ihn mit
    ihren kalten Blicken musterte und in ihrem
    Schlangengehirnchen überlegte, ob sie beißen
    oder bloß zischen solle.
    IV.
    ie Brüder Zöbeli hatten ihr Wanderle-
    D ben drei Jahre lang übers Land gespon-
    nen, als ihnen Signor Ercole eines Tages eröff-
    nete, nun gehe es der Heimat zu. Das setzte
    viel Freude und Jubel ab. Franz schwatzte, so
    viel die Zunge leisten mochte, von der Mutter
    und vom ‚Sack‘ und von dem, was der wun-
    derbare Sack enthielt. „Weißt du noch, Heinz,
    wie wir einst dem Meister Wäspi die Brille
    versteckten? Und er dann, weil er nichts mehr
    sah, ins Wirtshaus hinüber schlarpte!… Und
    wie wir den Schreinergesellen aufzogen, der
    immer zerrissene Pantoffeln und einen löche-
    rigen Zwilchschurz trug und Brotbeck hieß?
    Gibt es auch andere ‚Becken‘ als Brotbecken?…
    Und die Leimpfannen auf dem Ofen, die wir
    einmal herunternahmen, und zusammen-
    leimten, was nie zusammen gehörte! Weißt
    du noch?… weißt du noch?“ Das nahm kein
    Ende.
    Auch Heinz freute sich. Zu Hause mußte ja
    mit einemmal alles wieder besser werden, die
    Qual von ihm abfallen. Es ging ihm wie jenen
    Kranken, die glauben, sie müßten nur die hei-
    mische Luft wieder atmen, vom Brunnen und
    vom Tisch der Kindheit trinken und essen, in
    der Kammer schlafen, in der sie geboren wur-
    den, um wieder ganz, ganz zu gesunden.
    Wie lange dauerte die Heimfahrt! Diese
    Kinder hatten an den Eisenbahnfahrten längst
    keine Freude mehr, sie wußten ja alles zum vor-
    aus. Bäume, deren Blätter sich unter dem Luft-
    druck des Zuges bewegen und wie zur Flucht
    wenden; Bäche mit Hecken und schattigen Bü-
    schen, Flüsse mit Dämmen, auf denen Pappeln
    oder Weiden im Sommer schmachten und im
    Winter schlottern; Hügel mit Schloßruinen,
    die uns ansehen wie Menschen und zerfallen,
    man weiß nicht warum; Grüppchen von Bau-
    ern, halb nackt, mit der Sichel im Kornfeld,
    mit der Sense auf der Wiese, mit der Hacke im
    Kartoffel- und Tabakfeld, mit der blinkenden
    Axt am Waldrand; sie halten einen Augenblick
    in der Arbeit inne, wenn der Zug heranbraust,
    und sehen ihm nach wie von Neugier oder
    Sehnsucht gefaßt, während ihre sorgenlosen
    Kinder mit den Händen oder dem Käppchen
    grüßen; warum, da sie doch niemand kennen?
    Dörfer und Weiler, deren Giebel aus den Obst-
    bäumen oder aus dem Schnee hervorgucken,
    deren Kirchturm auf den Friedhof schaut und
    über Gräbern Wache hält; graue Straßen, die
    das Land durchschneiden und ins Weite führen,
    wer weiß, wohin? Und auf den Straßen dann
    und wann ein Fuhrwerk, das den Staub aufwir-
    belt und enteilt, wer weiß, zu wem? Städte, die
    mit ihren schlanken Türmen nach der rauchi-
    gen Luft stechen; ein Meer von Dächern, aus
    dem es verworren tönt und braust und rauscht
    und pocht und klopft, ohne daß man eine der
    rührigen Hände sieht, ohne daß man von ei-
    nem der Geräusche sagen könnte: „Das kommt
    vom Tischler und das vom Schmied und das
    vom Zimmermann — — —“
    Und am Abend, wenn die Fenster des Wa-
    gens erblindet sind, jene stille Nachdenklich-
    keit, die sich bei dem einförmigen Rollen der
    Räder einstellt, die unermüdlich eilen und jede
    neue Schiene mit einem Schlage begrüßen, so
    daß es fort und fort tönt, als hätte der Zug ein
    pochendes Herz; dann das Pfeifen der Loko-
    motive, ein Gruß, den die rasende Wagenkette
    in der Eile einem Dorf, einem Städtchen zuruft,
    im Namen der hundert Seelen, die da vorbeiflie-
    gen, wohin? woher? nach der Heimat, von der
    Heimat, von einer Fremde und Heimatlosigkeit
    zur andern. Lichter tauchen rechts und links
    aus dem Dunkel auf, einzeln, in Gruppen, in
    Haufen; worauf leuchten sie? Warum zittern
    sie so seltsam? Was haben sie zu fürchten?
    Droben am Himmel flimmern andere Lichter,
    die fliehen nicht links und rechts am Zuge
    rückwärts wie die

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