Salto mortale
‚Seil ‘ galt, die Muskeln wie Stahlbän-
der straffen, wenngleich die in ihm wühlende
Verdrossenheit ihm fast alle Kraft verzehrte.
„Schau freundlicher drein!“ flüsterte neben
ihm mit seiner milden falschen Stimme Signor
Ercole. Der Knabe aber hätte am liebsten eine
Grimasse geschnitten, mit den Füßen gestampft
und die Hände geballt, das Publikum und den
Herrn Direktor mit der Zunge begrüßt.
Und wenn er von der Bühne entwischte,
stieß er sicherlich auf die kleine Seiltänzerin,
die in ihrem schillernden Seidenkleidchen, mit
ihren niedlichen roten Schuhen und ihrem
wallenden Märchenhaar kokettierte, ihn mit
ihren kalten Blicken musterte und in ihrem
Schlangengehirnchen überlegte, ob sie beißen
oder bloß zischen solle.
IV.
ie Brüder Zöbeli hatten ihr Wanderle-
D ben drei Jahre lang übers Land gespon-
nen, als ihnen Signor Ercole eines Tages eröff-
nete, nun gehe es der Heimat zu. Das setzte
viel Freude und Jubel ab. Franz schwatzte, so
viel die Zunge leisten mochte, von der Mutter
und vom ‚Sack‘ und von dem, was der wun-
derbare Sack enthielt. „Weißt du noch, Heinz,
wie wir einst dem Meister Wäspi die Brille
versteckten? Und er dann, weil er nichts mehr
sah, ins Wirtshaus hinüber schlarpte!… Und
wie wir den Schreinergesellen aufzogen, der
immer zerrissene Pantoffeln und einen löche-
rigen Zwilchschurz trug und Brotbeck hieß?
Gibt es auch andere ‚Becken‘ als Brotbecken?…
Und die Leimpfannen auf dem Ofen, die wir
einmal herunternahmen, und zusammen-
leimten, was nie zusammen gehörte! Weißt
du noch?… weißt du noch?“ Das nahm kein
Ende.
Auch Heinz freute sich. Zu Hause mußte ja
mit einemmal alles wieder besser werden, die
Qual von ihm abfallen. Es ging ihm wie jenen
Kranken, die glauben, sie müßten nur die hei-
mische Luft wieder atmen, vom Brunnen und
vom Tisch der Kindheit trinken und essen, in
der Kammer schlafen, in der sie geboren wur-
den, um wieder ganz, ganz zu gesunden.
Wie lange dauerte die Heimfahrt! Diese
Kinder hatten an den Eisenbahnfahrten längst
keine Freude mehr, sie wußten ja alles zum vor-
aus. Bäume, deren Blätter sich unter dem Luft-
druck des Zuges bewegen und wie zur Flucht
wenden; Bäche mit Hecken und schattigen Bü-
schen, Flüsse mit Dämmen, auf denen Pappeln
oder Weiden im Sommer schmachten und im
Winter schlottern; Hügel mit Schloßruinen,
die uns ansehen wie Menschen und zerfallen,
man weiß nicht warum; Grüppchen von Bau-
ern, halb nackt, mit der Sichel im Kornfeld,
mit der Sense auf der Wiese, mit der Hacke im
Kartoffel- und Tabakfeld, mit der blinkenden
Axt am Waldrand; sie halten einen Augenblick
in der Arbeit inne, wenn der Zug heranbraust,
und sehen ihm nach wie von Neugier oder
Sehnsucht gefaßt, während ihre sorgenlosen
Kinder mit den Händen oder dem Käppchen
grüßen; warum, da sie doch niemand kennen?
Dörfer und Weiler, deren Giebel aus den Obst-
bäumen oder aus dem Schnee hervorgucken,
deren Kirchturm auf den Friedhof schaut und
über Gräbern Wache hält; graue Straßen, die
das Land durchschneiden und ins Weite führen,
wer weiß, wohin? Und auf den Straßen dann
und wann ein Fuhrwerk, das den Staub aufwir-
belt und enteilt, wer weiß, zu wem? Städte, die
mit ihren schlanken Türmen nach der rauchi-
gen Luft stechen; ein Meer von Dächern, aus
dem es verworren tönt und braust und rauscht
und pocht und klopft, ohne daß man eine der
rührigen Hände sieht, ohne daß man von ei-
nem der Geräusche sagen könnte: „Das kommt
vom Tischler und das vom Schmied und das
vom Zimmermann — — —“
Und am Abend, wenn die Fenster des Wa-
gens erblindet sind, jene stille Nachdenklich-
keit, die sich bei dem einförmigen Rollen der
Räder einstellt, die unermüdlich eilen und jede
neue Schiene mit einem Schlage begrüßen, so
daß es fort und fort tönt, als hätte der Zug ein
pochendes Herz; dann das Pfeifen der Loko-
motive, ein Gruß, den die rasende Wagenkette
in der Eile einem Dorf, einem Städtchen zuruft,
im Namen der hundert Seelen, die da vorbeiflie-
gen, wohin? woher? nach der Heimat, von der
Heimat, von einer Fremde und Heimatlosigkeit
zur andern. Lichter tauchen rechts und links
aus dem Dunkel auf, einzeln, in Gruppen, in
Haufen; worauf leuchten sie? Warum zittern
sie so seltsam? Was haben sie zu fürchten?
Droben am Himmel flimmern andere Lichter,
die fliehen nicht links und rechts am Zuge
rückwärts wie die
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