Salto mortale
irdischen, sie wandeln still
und treu mit ihm durch die Nacht, von Stadt
zu Stadt als tröstliche Begleiter …
Alle diese flüchtigen Eisenbahnbilder, all
diese nebelhaften, an der Grenze der Traum-
welt liegenden Reisestimmungen, berührten
die Knaben heute nicht. Sie saßen einander ge-
genüber und sprachen fast nichts, nur dann und
wann warf der eine dem andern einen Blick zu,
der etwa sagte: „Wie lang mag’s noch dauern?“
Und die Antwort: „Nur Geduld, sieh an den
Telegraphenstangen, wie der Zug rast.“ Oder:
„Ich kann es nicht erwarten, bis ich das Stüb-
chen und die Mutter wiedersehe!“ Und der an-
dere darauf: „Wird alles noch sein wie einst?“
Es war Nacht, als die Brüder mit ihrem
Meister durch die Straßen ihrer Vaterstadt der
mütterlichen Wohnung zustrebten. Als sie, auf
dem Münsterplatz angelangt, die Mündung der
spärlich erleuchteten Schlauchgasse erblickten,
konnten sie nicht mehr an sich halten: wie auf
Verabredung stürmten sie dem Signor Ercole
voraus in den ‚Sack‘ und die Treppe empor.
Man hatte die Mutter, um ihr eine Über-
raschung zu bereiten, nicht von der Rückkehr
benachrichtigt, und als sie auf das Klingeln der
Knaben mit Licht kam und sorgfältig, wie es
einer Witwe geziemt, die Tür öffnete, taumelte
sie vor freudigem Schreck und sich ans Herz
greifend zurück. Die Knaben hängten sich
an sie, sie umfaßte sie mit dem Arm, den sie
frei hatte, und so ging es der Stube zu, Seline
wußte nicht, ob sie von den Kindern oder das
Kinderpaar von ihr getragen wurde.
„Gelt, ich hab’ Sorge zu ihm getragen?“ flü-
sterte ihr Heinz, ein süßes Wort erwartend, ins
Ohr; sie küßte ihn auf den Mund und ihre Au-
gen verschlangen die hübschen Krausköpfe.
„Ja, Franzli sieht gut aus, aber du bist blei-
cher geworden, größer wohl, aber magerer …“
Er schmiegte sich fester an sie, es mußte ja
jetzt alles besser werden, alles ganz gut.
Signor Ercole trat ein, ohne daß man ihn
anfänglich bemerkte.
„Nun, bin ich nicht auch gekommen?“ stieß
er endlich auf der Türschwelle stehend her-
vor. Seline eilte ihm entgegen, zog ihn in die
Mitte des Stübchens, holte ihm einen Stuhl
herbei und machte dann ihrem Herzen Luft.
Sie setzte sich ihm gegenüber und stammelte
ihren Dank. Sie dankte ihm dafür, daß er ge-
kommen war, endlich, endlich, ihr die Buben
gebracht und zu ihnen all die Zeit so wohl
geschaut hatte, sie dankte ihm für den Wohl-
stand, den er aus der Fremde in ihr Stübchen
geschickt, sie dankte für das Glück, das nun in
ihrem Herzen hauste; und dabei zeigte sie ihm
mit Stolz und Freude die Dinge, mit denen sie
ihre Stube geschmückt hatte.
Er nahm ihre Worte mit Genugtuung hin
und fing gleich an, sich in Zukunftsplänen zu
ergehen, silberne Stege und Brücken und Stra-
ßen zu bauen, ein Marmorhaus aufzutürmen
und es mit goldenen Tischen und Schemeln
und Stühlen auszustaffieren. Er hatte zuweilen
eine muntere Fantasie und ließ sie traben.
Einen vergnügtern Abend hatte das Dach-
stübchen der Frau Seline Zöbeli noch nie erlebt.
Auch die Knaben hatten zu erzählen: von Städ-
ten, die groß seien wie ein ganzes Land, von
Gegenden, wo es keine Berge gebe, und sogar
vom Meer und seinen hundert Schiffen. Dann
von den neuen Freunden und Wandergenossen.
Franzli berichtete ahnungslos von Bianca, der
Seiltänzerin, und versuchte der Mutter ihr Lied
zu singen:
„Treu und herzinniglich …“
Heinz gab das einen Stich, und auf einmal
entdeckte er, daß die Mutter für den Kleinen län-
gere, wärmere Blicke habe, als für ihn. Er klam-
merte sich fester an ihren Arm an, als könnte
sie ihm verloren gehen. Eine trübe Ahnung stieg
in ihm auf, er wußte nicht wie, er wäre nun
lieber wieder in der Fremde gewesen, in irgend-
einer Herberge. Die Qual hatte ihn auch in der
Heimat gefunden, gab es denn kein Entrinnen?
Am frühen Morgen waren die Brüder wieder
wach, es verlangte sie, der Mutter Stimme zu
hören, es gelüstete sie, wieder einmal über die
alten Dächer wegzusehen, nach den rauchen-
den Kaminen, nach dem fliegenden und schlei-
chenden Getier, nach den Schneebergen und
ihren weißen Zacken oder den getürmten Wol-
ken, die darüber lagen. Nach dem Frühstück
stiegen sie in die Gasse hinab und steckten die
Köpfe in die Schreinerwerkstatt, wo die Bretter
wie einst unter den Stößen des Hobels kreisch-
ten, und die Gesellen in den harzduftenden
Spänen
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