Salto mortale
aufreibende Wan-
derleben von Stadt zu Stadt, aus einem Land in
ein anderes, von Aufregung zu Aufregung.
Die Zeitung hatte von den fratelli Zobelli
ein großes Wesen gemacht, alles war auf sie
gespannt, und der Saal gedrängt voll.
Als Heinz einen Blick in den Raum warf, in
den gähnenden Tierrachen, der die Bühne und
alles, was sich darauf befand, zu verschlingen
drohte, wuchs in ihm das beklemmende Ge-
fühl, das ihn beim Eintritt in das Haus wieder
überfallen hatte, und wie er auf der dachförmi-
gen Treppe emporstieg, merkte er, daß er weni-
ger flink und sicher war als sonst. Er nahm sich
zusammen, er wollte, er mußte ja!
Aber es wurde ihm alles sauer an diesem
Abend; als er Franz auf dem Kopfe trug, war
ihm, der Nacken werde ihm widerspenstig, es
stecke ein böser Willen, eine Ungeduld, ein
Ungehorsam drin, und die Treppe erschien
ihm von unendlicher Länge und Höhe.
Jetzt galt es, das Wagnis auf der Drehscheibe
zu bestehen, vor dem er seit gestern ein unsäg-
liches Grauen empfand. Er warf dem Direktor
einen stehenden Blick zu; der aber verstand
ihn nicht und raunte ihm zu: „Wartest du noch
auf eine Semmel? Auf und dran.“
Heinz fühlte, daß er widerstehen mußte,
daß er an diesem Tage das Theater nicht hätte
betreten sollen, und er sagte mit bebenden
Lippen.
„Ich kann nicht mehr!“
„Geh, man kann immer, wenn man muß!“
Heinz schüttelte den Kopf und schaute nach
dem Ausgang, Fluchtgedanken im Sinn. Des
Direktors Augen flackerten. „Gewahr’ dich!“
zürnte er.
Es war im Saal ganz still geworden, Heinz
fühlte, daß aller Augen, auch die der Mut-
ter, auf ihn geheftet waren, und er zitterte vor
Aufregung und Angst. „Ich will nicht mehr“,
sagte er; aber Signor Ercole verstand es nicht
so: „Geh, du Schlingel, oder ich hau’ dir eine
runter!“ zischte er ihn an. Und nun fügte sich
Heinz wie ein Verzweifelter, der sich sagt:
„Meinetwegen, wenn ihr es haben wollt!“
Er faßte die Scheibe und stemmte sich dar-
auf empor. Wie ihm aber Franz die Hände auf
die Fußsohlen stützte und sein ganzes Gewicht
auf ihn ablud, knickte er in den Ellbogen leicht
zusammen, er wußte, daß er ihn nicht würde
halten können, und es kam wie eine dumpfe
Neugier über ihn, wie das Entsetzliche nun ge-
schehen möchte.
Da hörte er Franz über sich flüstern: „Halt
fest, Heinz.“ Das rüttelte ihn etwas auf und er
raffte das bißchen Willen, das ihm geblieben
war, zusammen. Er wollte das Unmögliche ver-
suchen, er klemmte die Augen zu, er biß die
Zähne zusammen, um jedes Tor, aus dem die
Kraft entweichen konnte, zu schließen. Jeder
Muskel, jede Faser zitterte an ihm und war
dem Zerreißen nahe, die Kehle schnürte sich
ihm zu und der Schweiß trat aus allen Poren,
er meinte, alles Blut sause ihm wie ein Wild-
bach durch den Kopf und zersprenge ihn.
Die Scheibe fing endlich sich zu drehen an,
viel langsamer als sonst, wie es ihm schien.
Gerne hätte er dem Direktor zugerufen, sich zu
beeilen, oder dem Bruder, abzuspringen, aber
er vermochte es nicht, er fühlte, daß, sobald
er sprach, das Unglück da war. Das ging eine
Ewigkeit lang, und immer heftiger bebten ihm
die Arme und immer ungeduldiger zuckte es in
den Muskeln. Nun mußte etwas springen oder
reißen. Wenn Franz seinen Salto nun nicht
machte, war er verloren.
Die Zuschauer wurden seines Zitterns, das
sich bis hinauf in die Zehenspitzen des Klei-
nen fortsetzte, gewahr. Die Gewißheit eines
Unglückes malte sich auf allen Gesichtern.
Auch der Direktor sah, daß die Lage
schlimm war, aber er sagte sich: „Er hat gestern
auch ausgehalten.“ Doch fing er an, die Kurbel
schneller zu drehen als sonst und raunte Heinz
zornig zu: „Donnerwetter, nicht zittern!“
Die heftigen Worte schlugen wie Keulen-
schläge an das Ohr des Knaben; er zuckte un-
ter der Wirkung des nochmals aufgeschreckten
Willens zusammen, er öffnete die Augen, und
seine Blicke fielen auf die Mutter, die am glei-
chen Platze saß wie tags zuvor.
Er suchte Stärkung in ihren Blicken, sie hatte
ihm ja versprochen, ihn beständig anzusehen.
Aber ihre Angstaugen waren heiß nach oben
gerichtet und verschlangen ihren Jüngsten.
Nun war es aus, es ging ein Stoß durch den
Leib des Knaben, ein Zucken wie das einer ab-
schnellenden Sehne. Ein Stöhnen preßte sich
durch seine zusammengebissenen Zähne.
In der vordersten Bankreihe gellte ein
markerschütternder Schrei, ihm
Weitere Kostenlose Bücher