Salto mortale
halb
ohnmächtig über seiner Drehscheibe zusam-
men und kollerte zu Boden. Niemand beach-
tete es als Signor Ercole, der ihn rasch und un-
auffällig von der Bühne brachte und draußen
mit rauhen Worten schalt, zum erstenmal seit
ihrer Wanderzeit, und in Gegenwart der klei-
nen Seiltänzerin, die verschmitzt lächelte und
sich auf den Fersen höhnisch herumdrehte.
Auf dem Heimwege und zu Hause sprach
Heinz kein Wort, man begehrte auch keines
von ihm. Signor Ercole zürnte ihm, denn es war
ihm nicht entgangen, in welche Gefahr er den
Kleinen gebracht hatte. Die Mutter aber hatte
ihren Wagehals anzusehen und zu bewundern,
mit ihm zu plaudern und zu kosen. Seit ihr
Herz für ihn in tausend Ängsten gehämmert
und gezittert hatte, war es durch neue Bande
an ihn geschmiedet.
Heinz, der sonst eifersüchtig jedes Liebes-
zeichen der Mutter erlauert und gewogen hatte,
achtete jetzt nicht darauf. Er war betäubt, er
hörte in einem fort das ruchlose Wort im Ohr
und fühlte, daß es ihm die Kraft zerfraß und
einem Unglück rief.
In der Kammer, in ihrem alten Bette, schlug
er die Arme um den Bruder, fest, wie Wurzeln
die Erde umklammern, küßte ihn, flüsterte
ihm zu, wie lieb er ihn habe, und dabei quollen
ihm die Tränen aus den Augen und benetzten
die Wangen des Kleinen. Der begriff nicht und
wollte die Mutter rufen; Heinz aber bat ihn,
sich still zu halten, worauf Franz bald in des
Bruders Armen einschlummerte.
Heinz fand den Schlaf erst gegen Morgen,
und als er endlich über ihn kam, war es eine
schwere, den Atem beklemmende Decke, ein
Balken auf der Brust des Gequälten. Schreck-
hafte Traumbilder ängstigten ihn: er sah den
Sarg, den Meister Wäspi am Morgen zusam-
mengetrieben hatte, und drin lag bald Franz,
bald er; war aber die Reihe an ihm, so wurde
der Schrein zugenagelt, und der Versargte
konnte sich in Erstickungsnöten nicht rühren,
vermochte nicht zu schreien, und seine Au-
gen sahen nichts als die grausige Nacht, die
den Sarg wie schwarze Wolle füllte. Mit einem
Schrei fuhr er endlich in die Höhe. Er war in
Schweiß gebadet. Der Morgen schielte bleich
in die Dachkammer. Franz aber zog noch ru-
hig den Atem ein, und seine Wangen waren rot
und frisch in der Gesundheit des Schlafes.
Heinz ging den ganzen Tag verstört umher,
sprach nicht und aß nichts. Man drang in ihn,
er wich lange aus. Endlich stieß er es hervor:
„Ich spiele heute abend nicht, ich spiele über-
haupt nicht mehr!“
„Was ist in dich gefahren, du Eigensinn?“
fuhr ihn Signor Ercole an.
Man wollte den Grund seines Verhaltens
wissen, er ließ sich kein Geständnis abringen.
Wie hätte er das entsetzliche Wort gebeichtet,
das ihn auf der Drehscheibe überfallen?
Sein hartnäckiges Weigern brachte die
Dachwohnung in große Bestürzung. Signor
Ercole sah sein Geschäft gefährdet, die Mutter
das Bächlein ihres Wohlstandes vertrocknen.
Sie war gestern bei der Aufführung bestän-
dig von der Lust in den Schmerz und vom
Schmerz wieder in die Lust geworfen worden.
Jetzt wand sie sich in einem ähnlichen Zwie-
spalt: so lange ihre Knaben bei dem gefährli-
chen Gewerbe waren, mußte sie nun täglich
zittern und bangen, das wußte sie; aber wenn
sie nichts mehr verdienten, was dann? Sie sah
ihr früheres Leben wieder vor sich, das Le-
ben, das ein Sterben war, ein ewiges Bücken in
Sorge und Niedrigkeit und Not. Sie hatte sich
so sehr an ihren Überfluß gewöhnt, wie konnte
sie die alte Armseligkeit wieder ertragen? Und
dann sollte sie ja von nun an als Frau Direktor
die Knaben begleiten, konnte also täglich ih-
ren Ruhm sehen, allezeit über sie wachen! Es
wäre nun schwer, all den Zukunftsträumen zu
entsagen. Und doch, wenn es ein Unglück gäbe,
wenn Franz fiele …?
Heinz hielt bis eine Stunde vor Beginn der
Vorstellung aus. Die Mutter saß in einer Ecke,
jeden der Knaben mit einem Arm umfassend.
Signor Ercole ging unruhig grübelnd in der
Stube auf und ab, seine Backenknochen stachen
noch mehr als sonst hervor, sie glichen zwei vor
den Kopf gehaltenen Fäusten, die bereit waren,
loszuschlagen. Er sah ungemütlich aus.
Nun trat er für einen Augenblick in sein
Zimmer, um bald wieder mit einem Haufen
Zeitungen zum Vorschein zu kommen, warf
den papiernen Plunder auf den Tisch, hieß
Heinz näher treten und las ihm nun Berichte
über ihre Vorstellungen vor, wobei er die Sätze
hervorhob, in denen das Wort Arrigo in ge-
sperrten Lettern zu
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