Salto mortale
lesen war.
„Und das willst du nun alles in den Graben
werfen? Man soll dir nicht mehr klatschen,
nicht mehr ‚Bravo‘ rufen, keine Blumen mehr
zuwerfen?“
„Das gilt ja nicht mir!“
„Was faselst du da?“
„Ich weiß es gut genug, das gilt alles ihm!“
Die Tränen traten ihm in die Augen.
„Aha,“ dachte Signor Ercole, „steckt der Dorn
da im Fleisch?“ Und er machte sich daran, dem
Jungen Kummer, Eifersucht, Mutlosigkeit und
was sonst in ihm wühlen und bohren mochte,
aus dem Sinn zu reden: „Sind denn nicht die
Zeitungen voll von deinem Lob? Hat so ein
Schreiber je dich vergessen, wenn er Franz er-
wähnte? Wenn zwei miteinander auftreten und
zusammenspielen, so sind sie wie verwachsen,
und einer gilt, was der andere. Im Theater seid
ihr nicht der Heinz und der Franz, sondern
die fratelli Zobelli, und wenn einer seine Sa-
che schlecht macht, so taugt auch des andern
Kunst nichts. Was wäre Franz ohne dich, und
was könnte er dem Publikum zeigen? Nichts,
er braucht dich! Soll er nun auch zu Hause
hocken, weil du nicht mehr magst? Denkst du
gar nicht an ihn? Sag’, Franzle, willst auch du
nicht mehr? Möchtest du Tag für Tag auf der
Schulbank sitzen und jeden Augenblick vor des
Schulmeisters Stecken die Hände verbergen
oder den Kopf einziehen?“
Der Kleine machte eine Bewegung, als ob
ihn schauderte.
„Nein, nein!“ fuhr Signor Ercole fort, „ihr
müßt zusammengehen wie Brüder, dann wer-
det ihr reiche Leute, steinreiche Leute, sag’ ich
euch! Könnt ein Leben führen, wie die Vögel
im Hanfacker, und alle Zeitungen werden von
den fratelli Zobelli voll sein, von dem Arrigo
nicht minder als von dem Freschino. Was woll-
test du denn anfangen, Heinz? Ein Schuster
werden und pecheln, daß man dich auf eine
Stunde röche? Oder ein Schneider, und vom
Morgen bis zum Abend wie eine Kröte auf ei-
nem Tische hocken, dir die Finger zerstechen,
und wenn sich Gelegenheit zeigt, ein Fetzlein
Tuch erschuften, nur damit du genug zu kauen
hast? Oder ein Fabrikler, und mit rußigem
Gesicht, zerhämmerten und narbigen Händen
und ölfleckigen Flickhosen umherlaufen? Und
Franz soll auch ein Schuster oder Schneider
oder Fabrikler werden?“
Der Kleine schlich sich bekümmert heran
und umschmeichelte den Bruder.
„Und an die Mutter denkst du nicht und
die vielen Geldstücke, die ihr für sie verdient?“
fuhr Signor Ercole fort, „habt ihr gestern nicht
den ganzen glänzenden Haufen in der Schub-
lade gesehen? Sieh, das Geld kann Franz nicht
allein verdienen, da mußt du mit helfen! Es
ist wie bei dem Baum mit den Goldblättern!
Weißt du noch?“
Heinz hörte die Mutter tief aufatmen und
spürte Franz wie ein Kätzchen an seiner Seite.
Er bäumte sich innerlich noch, aber er war zu
gutherzig, um Mutter und Bruder wehe zu tun,
und außerdem schmeichelte es dem Ehrgeizi-
gen, deutlich vernommen zu haben, daß er un-
entbehrlich sei.
„Aber die Mutter muß mitkommen!“ stieß
er endlich, den Kampf aufgebend, hervor.
Sie hatte am Abend zuvor erklärt, die Wag-
halsigkeit nicht wieder ansehen zu wollen, die
Angst, die sie ausgestanden, komme ihr Zeit
ihres Lebens nicht mehr aus den Gliedern.
Jetzt war sie leicht zu bewegen, den Gang zum
zweitenmal zu unternehmen, sie hätte auch
sonst dem Verlangen, ihre Kinder bewundert
zu sehen, wohl nicht lange widerstanden.
„Und du mußt mich immer ansehen!“
„Ja, sei ruhig, ich werde dich immer anse-
hen“, versicherte sie. Heinz wurde etwas leich-
ter ums Herz, er erinnerte sich, daß das Auge
der Mutter ihm am vergangenen Abend die
Kraft gegeben hatte, bis zum Schlusse auszu-
halten, ihr Blick sollte ihm auch heute helfen.
Als Heinz die Schwelle des Theaters über-
schreiten sollte, überfiel ihn die Angst wieder.
Er stutzte und ließ sich von Signor Ercole hin-
einschieben. Auf der Treppe stieß er auf Bianca,
die in ihrem gelbseidenen Engelkleide heran-
hüpfte, ihm im Vorbeihuschen mit ihrem lan-
gen Finger einen Nasenstüber versetzte und
sich dann an Franzens Schulter hängte. Heinz
war ihre Neckerei kaum zum Bewußtsein ge-
kommen, ihn beschäftigte die angstvolle Frage:
„Werde ich ihn halten können?“
Das Programm stimmte bis auf wenige Ein-
zelheiten mit demjenigen des ersten Abends
überein. So war es immer: man führte vor, was
sich als zugkräftig erwiesen hatte, und war das
Publikum damit gesättigt, so zog man eben
weiter. Daher das rastlose
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