Salto mortale
waffenlos, wenn
sie ihn auch schier aufrieben.
Endlich kam der Tag, da man den Verband
löste. Franz wurde aus dem Spital entlassen
und kehrte in das Haus zum ‚Sack‘ zurück.
Heinz führte ihn mit mächtiger innerer Freude,
mit dem Gefühl, nun sei die schwere Schuld
von ihm genommen, in der Mutter Stübchen
hinein und hätte dabei kein Wort über die Lip-
pen gebracht. Signor Ercole, der eben zugegen
war, setzte sich auf einen Stuhl, nahm Franz
zwischen die Knie und begann, den nun vom
Gips befreiten Arm zu mustern, daran sorgfäl-
tig zu ziehen und zu stoßen, zu drücken und
zu drehen, und sein Gesicht wurde immer ern-
ster. Er verließ das Haus, um bald darauf mit
einem Arzt zurückzukehren, der sich ebenfalls
über das fleischlose, in abgestorbener, gelber
Haut steckende Glied hermachte. Als er zu
Ende war, ließ er sich von Signor Ercole in sein
Stübchen führen, wo sich zwischen den beiden
ein lebhaftes Gespräch entspann, das dumpf
und geheimnisvoll durch die Fugen der Türe in
die Wohnstube drang, wo die Mutter und die
Knaben in ängstlicher Erwartung saßen. Heinz
fühlte, daß die Schuld immer noch auf ihm lag
und in diesen langen Augenblicken anschwoll.
Am Abend desselben Tages stellte sich Si-
gnor Ercole im Reiseanzuge vor seine Braut
und sagte kurz: „Leb’ wohl, ich muß nun fort.“
Sie verstand ihn nicht. Er wiederholte mit
vorgestreckter Hand: „Leb’ wohl und vergiß!“
„Was soll das heißen?“ stammelte sie.
„Sei vernünftig! Meine Truppe muß essen
und leben, sie braucht mich, ich kann nicht
ewig hier bleiben.“
„Und die Buben?“
Er zuckte mit den Achseln und sagte halb-
laut: „Es ist schwer, aber ich kann nicht helfen.“
„Du willst sie abschütteln?“
„Ich kann sie nicht mehr brauchen, des Klei-
nen Hand taugt nichts mehr. Und mit dem
Großen allein … Es tut mir leid, aufrichtig leid!
Wen trifft es am meisten? Mich! Gottlob bin
ich nicht schuld daran!“
Dies sagend schleuderte er nach Heinz ei-
nen Blick, der diesem wie ein Messer durch die
Brust fuhr. Die Mutter aber sank halb betäubt
unter dem Schlage auf einem Stuhle zusam-
men und klammerte sich an die Lehne an.
Dem Herrn Direktor wurde die Lage pein-
lich, er streckte wieder seine knochige Rechte
der armen Frau entgegen und sagte in einem
Ton, der Teilnahme ausdrücken sollte: „Liebe
Seline, es muß sein, du mußt dich fassen und
drein schicken; adieu!“
„Und du und ich?“ stotterte sie.
Er wiegte sich ein paarmal in den Hüften
und sagte dann langsam: „Mir ist es aufrichtig
leid, aber was sollen wir zusammen, wenn die
Buben nicht mehr zu gebrauchen sind? Was
sollte ich mit den beiden anfangen? Und was
hätte ihre Mutter mit meiner Truppe zu schaf-
fen? Du passest für mein Leben nicht mehr, gute
Seline! Das mußt du doch selber einsehen!“
Nun erst begriff sie ganz, sie schnellte em-
por und rief: „Geht man so mit mir um, und ist
das unser Lohn?“
Er lächelte ihr mit beiden Händen zu, um
sie zu beschwichtigen, und meinte trocken und
entschlossen: „Das Leben ist hart und macht
hart. Man muß fassen, was einem dient, und
lassen, was einen hemmt, so viel habe ich nun
gelernt!“
„Du bist ein Schuft!“ fauchte sie ihn an,
indem sie ihre Finger wie Krallen gegen ihn
krümmte.
Er wich zurück, die Hände zur Abwehr be-
reit, und stieß hervor: „Wüte gegen den, der an
allem schuld ist!“
Sie stürzte wie rasend auf ihn ein, prallte
aber an seiner Faust so heftig zurück, daß sie
schwer gegen den Tisch taumelte und beinahe
fiel. Die Knaben brachen in lautes Geschrei
aus und umklammerten die halb ohnmächtige
Mutter.
Signor Ercole benutzte die Gelegenheit, um
zu verschwinden.
In der Dachwohnung des Hauses zum
‚Sack‘ war es an jenem Abend so drückend,
als hätte der Tod Einkehr gehalten. Die Mut-
ter saß wie gelähmt auf ihrem Stuhle, sann
und sann und ließ dann und wann, ohne es
zu merken, eine Träne auf die Schürze fallen.
Sie war also eine im Stich Gelassene, mit Ver-
achtung und Schmach Bedeckte. Warum? Was
hatte sie denn getan? Hatte sie ihn begehrt,
sich ihm an den Hals geworfen? Hatte sie sich
nicht lange genug gesträubt? Was für ein ge-
wissenloser Bube mußte er sein! Er schien
sie nicht mehr zu achten als einen Hund! Ihr
graute nun vor ihm. Wie ruchlos und selbst-
süchtig muß der sein, der Menschen achtet wie
Hunde! Der ihnen den Tritt gibt, sobald es ihm
in den Kram
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