SALVA (Sturmflut) (German Edition)
Man sagte sich, dass er wüsste wie man von der Medikation los käme,
ohne dabei sein Leben zu riskieren. Allerdings war der Versuch ihn zu finden
definitiv ein Risiko für das eigene Leben. In den öffentlichen Medien fiel nie
ein Wort über ihn, er war ein urbaner Mythos. Ich wusste zwar, dass das nichts
bedeuten musste, war mir aber auch nicht sicher, was ich davon halten sollte.
Wenn es ihn wirklich gab, war er die Verkörperung von einfach allem, was ich
mir ersehnte. Vor allem Freiheit.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen
soll.“ Sofort verschwand das breite Grinsen auf Ihsans Gesicht. Offensichtlich
hatte er sich mehr Begeisterung von mir erhofft, doch ich konnte nicht anders
als skeptisch zu sein. Es bestand immer noch die Gefahr, dass er gar nicht
existierte, dass es nur eine Falle der Regierung war, um Andersdenkende
einzufangen und zum Schweigen zu bringen.
„Sag, dass du mit mir gehst, um ihn zu
finden.“ Ihsan nahm meine Hand und sah mir in die Augen. Er wollte das
wirklich, ich konnte den Wunsch in seinen Augen brennen sehen. Mein kleiner,
schwacher Ihsan zeigte zum ersten Mal den Willen zu kämpfen. Es erstaunte mich
und bereitete mir auch Sorgen. Er war so naiv. Ich wollte nicht, dass die
Enttäuschung ihn zerbrechen würde.
„Es ist gefährlich Ihsan. Wir könnten
sterben. Vielleicht will man das sogar. Es könnte eine Falle sein.“
„Das ist mir egal! Wir müssen es doch
zumindest versuchen.“ Sein Blick wurde verzweifelter.
„Ich will aber nicht, dass du stirbst
und-“
„Wir sterben auch, wenn wir nichts tun!
Milla, du hast selbst gesagt, die Medikation bringt uns um. Wie viele Schüler
und Studenten sind bereits verschwunden? Sie waren nicht stark genug um
es durchzuhalten. Ich will nicht der Nächste sein.“ Ihsans Stimme zitterte. Ich
konnte seine Angst verstehen. Er litt auch unter den Nebenwirkungen, vielleicht
war es nur eine Frage der Zeit, bis auch er... Ich wollte diesen Gedanken gar
nicht zu Ende bringen, es tat einfach weh. „Gerade du solltest an seine
Existenz glauben. Von allen Menschen in dieser Stadt bist du ihm vielleicht am
ähnlichsten.“
„Ich?“
„Ja du. Du wehrst dich gegen die
Regierung. Du hast die Hoffnung nicht aufgegeben und du willst den Menschen
helfen. Du tust es auf deine Weise und so macht er es auch. Wir wissen beide,
dass es nicht unmöglich sein kann von der Medikation loszukommen. Jemand musste
irgendwann herausfinden, wie es zu machen ist und glücklicherweise denkt er so
wie wir.“ Ihsan packte mich fest bei den Schultern, eine kraftvolle Geste, die
ich nicht von ihm kannte. Er sprach mit all der Überzeugung, die er aufbringen konnte.
„Einverstanden. Wir gehen zusammen. Ich
schätze, wir haben nichts zu verlieren.“ Ich versuchte zu lächeln aber es
gelang mir nicht so recht. Ihsan drückte mich an sich und lachte. Ich wusste
nicht genau, ob vor Erleichterung oder Freude. Wahrscheinlich beides.
„Wenn ich den Zettel richtig verstehe,
dann finden wir ihn Kalemegdan um ein Uhr in der Nacht.“ Diese Information
weckte wieder das Misstrauen in mir. Kalemegdan befand sich mitten im
Stadtzentrum. Es war ein riesiges Areal auf dem sich früher ein Park, einige
Gebäude und ein Zoo befanden. Es war zwar nicht völlig abwegig es als
Treffpunkt auszuwählen, da dieses Gebiet damals, in den Krisenzeiten als
Versammlungsort diente. Es steckte auch eine Geschichte dahinter, die genug
Potenzial zur Abschreckung barg. Von dort aus wurden viele, der damaligen
Proteste gegen die Europäische Regierung gestartet. Später war es das Versteck
für radikale Gruppen, die versuchten sich gegen die anstehende Neuordnung und
die Pflicht der Medikation zur Wehr zu setzten. Nach dem eine Kirche und der
Zoo auf dem Gelände eines Nachts abbrannten, wurde es von der
Stadtadministration zu einem dauerhaften Sperrgebiet erklärt. Damals kamen 92
Menschen ums Leben und seit her stieg diese Zahl jährlich. Niemand durfte es betreten,
wohl auch um jede Form des Widerstandes, der von dort aus seinen Anfang nahm,
ein für alle Mal zu unterbinden. Mittlerweile war es ein verwilderter Park, der
von einem großen Zaun umschlossen war und von Schutztruppen bewacht wurde.
Genau diese Tatsache machte mich jedoch auch stutzig. Es war extrem schwer auf
das Gelände zu kommen. Nicht selten wurde in den
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