Salz auf unserer Haut
kennt keinen der Orte, wo ich gelebt habe, bis auf das Haus meiner Kindheit. Er ist nur mein geträumtes Leben, und ich schreibe ihm von einem Land aus, wo alles möglich und nichts wahr ist. Aber mir liegt viel an diesem Austausch: Der Nimbus des Schreibens, jeglichen Schreibens, vorausgesetzt, man verfügt über ein Minimum an Technik, wirkt immer, selbst bei jemandem, der noch vor kurzem glaubte, schreiben bedeute »etwas von sich hören lassen«. Langsam und methodisch verderbe ich ihn, und dabei schockiere ich ihn nur gerade soviel, daß er an dieser Art von Lust vielleicht Gefallen findet, wo doch die anderen Lüste uns derzeit vorenthalten sind. Wir planten, uns für ein, zwei Wochen an der Badeküste des Senegal zu treffen, wenn die Thunfischsaison dem Ende zugehen würde, und bevor er zu seiner Familie nach Larmor zurückkehren würde. Diese Notwendigkeit, uns weit weg von unserem jeweiligen Zuhause zu treffen, mißfiel mir nicht, denn sie machte unsere Geschichte nur noch unwirklicher, was sicherlich für sie die Überlebensbedingung war. Das Rendezvous war schon für Ende April in Dakar festgelegt, und von dort aus wollten wir in Richtung Casamance hinunterfahren, wo uns wiederum ein Boot erwartete, das Gauvain gemietet hatte. Am 2. April jedoch erlitt Marie-Josée auf der Straße nach Concarneau einen schweren Autounfall, und ihr jüngster Sohn Joël mußte mit einem gefährlichen Schädelbruch nach Rennes transportiert werden. Gauvain rief mich in Paris an, wie üblich, ohne ein Wort über seine Gefühle zu verlieren, und erklärte mir trocken, daß wir keinen Gedanken mehr daran verschwenden sollten, gemeinsam zu verreisen und uns zu sehen, »vorerst«, fügte er immerhin hinzu. Sicherlich müßte er seinen ganzen Urlaub, drei Monate, in Larmor verbringen. »Ich schreibe dir«, sagte er abschließend und hängte sehr schnell ein. Vom Senegal aus sind Ferngespräche teuer!
Vermutlich aufgrund unserer etwas irrealen Beziehung gelingt es mir nicht sofort, in meinem wirklichen Leben die Enttäuschung und die Trauer zu empfinden, die mein geträumtes Leben betreffen. Im übrigen muß ich gestehen: Irgendwie bin ich erleichtert, diese Osterferien Loïc widmen zu können. Die Liebesaktivitäten gehen stets auf Kosten der mütterlichen oder der beruflichen Verpflichtungen, was einem unentwegt Schuldgefühle einjagt. Sydney hatte ich noch nichts gesagt. Das freut mich jetzt. Feigheit wird manchmal belohnt. Die Programmänderung macht es mir außerdem möglich, mich um Ellen zu kümmern, die ‒ mehr denn je in ihrer Funktion als Orgasmologin ‒ in Frankreich ist. Ihr Buch geht außerordentlich gut in Amerika, ihre Ehe hingegen nicht. Es ist manchmal schwer, den Erfolg seiner Frau zu verdauen, schwerer noch, wenn dieser Erfolg auf Sex beruht und es im entsprechenden Buch nur so wimmelt von Beispielen und Anekdoten, deren Held in den seltensten Fällen Alans Phallus ist! Man betrachtet Al mit lüsternem oder mitleidigem Auge: Ist er der Spezialist für die »chinesische Rolle«, für das beschleunigte Vibrato des Handgelenks? War er derjenige, den Ellen mit der Schambein-Steißbein-Nummer beglückt hat, die sie auf Seite 74 beschreibt? Da der Orgasmus seit der unlängst erschienenen Übersetzung des Kinsey-Report in Frankreich allmählich salonfähig wird, hofft Ellen, anläßlich ihrer Reise auch einen französischen Verleger zu finden. Sie klappert sämtliche Rundfunkanstalten, Frauenzeitschriften und Zeitungen ab, wo ihre wissenschaftlich fundierte Keßheit, ihre Mischung aus Naivität und Zynismus, ihr amerikanischer Akzent und ihr Puppengesicht Wunder wirken. Sie veranstaltet bei uns zu Hause Gesprächsabende zwecks Erfahrungsaustausch und nimmt sich vor, ihrem Buch ein Kapitel über den lateinisch-christlichen Orgasmus hinzuzufügen. Unterhaltungen, die so direkt mit Lust und Lustbefriedigung zu tun haben, schaffen ihr nebenbei Gelegenheit zu nicht zu verachtenden praktischen Übungen, und großzügig versucht sie, Sydney und mich daran zu beteiligen.
Aber ich stelle nicht ohne Bedauern fest, daß mir die Erinnerung an Gauvain noch immer so sehr am Körper klebt, daß eine aktive Beteiligung an solchen Spielchen für mich nicht in Frage kommt. Dabei schreibt mir mein Kormoran seit dem Unfall seiner Frau nicht mehr ‒ um sich zu bestrafen, davon bin ich überzeugt. Bei den primitiven Völkern bedarf es ja auch eines Sühnerituals. Für Gauvain wird dort oben beim lieben Gott über alles Buch geführt, und
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