Salz und Asche - Roman
nur in Begleitung von Anje oder Lene, war es kaum möglich, dass sie ihm begegnen würde.
Eine Neuigkeit, die sie überhaupt nicht hätte treffen sollen und dennoch erschütterte, überbrachte ihr Martin ganz nebenbei am Mittagstisch. »Ich war bei Schmitt und habe Fassbänder bestellt. Er hat einen neuen Lehrling, der sie
bringen wird. Albert ist zum Gesellen freigesprochen, und Niehus ist fort.«
Susannes Mund wurde so trocken, dass sie ihr Brot nicht mehr schlucken konnte. Sie nahm einen Schluck Dünnbier, um es herunterzuspülen. Fort. Wohin fort? Er hatte sich doch so gewünscht, zu bleiben und in Ruhe seinem Handwerk nachzugehen.
»Tja. Fort gehen die Lumpen. Der Stadt tut es keinen Schaden«, sagte ihr Vater und biss grimmig in seine geräucherte Hammelkeule.
Sie alle erschraken, als Regine aufsprang und aus der Küche stürzte. Susanne ließ ihr Brot auf den Tisch fallen und eilte ihr nach. Draußen krümmte sich ihre Schwester und übergab sich zitternd ins Blumenbeet an der Hofseite. Dann fing sie an zu weinen.
Besorgt bemühte Susanne sich darum, sie zu trösten, und brachte sie mit Anjes Hilfe zu ihrem Bett, obgleich sie sich dagegen sträubte.
Anje sah Susanne mit gerunzelter Stirn an. »Schon das dritte Mal«, sagte sie in bedeutungsvollem Tonfall.
Susanne blickte von ihr zu Regine, die gebeugt auf der Kante des Alkovens saß und das Gesicht in den Händen verbarg. »Sie wird sich den Magen verdorben haben. Was meinst du, soll ich den Bader rufen?«
Doch Anje zuckte nur mit den Schultern. Susanne seufzte. Anje nach ihrer Meinung zu fragen erwies sich meistens als sinnlos. So entschied sie allein und bat ihren Vater, auf dem Weg in die Böttcherstraße beim Bader vorbeizugehen.
Als dieser am Nachmittag erschien, ging es Regine längst wieder gut. Sie hatte eine Weile geschlafen und war dann erholt in der Küche erschienen. Es war Susanne etwas peinlich,
den Bader dennoch um eine Untersuchung zu bitten, doch andererseits sollte er den Weg nicht vergeblich gemacht haben. Susanne war in der Kammer anwesend, während er Regine etliche Fragen stellte, in ihre Augen und ihren Mund sah. Die entscheidende Frage stellte er zuletzt, und Regine konnte sie nicht ohne Susannes Hilfe beantworten, weil die Antwort zu den Dingen gehörte, die sie grundsätzlich vergaß. Susanne wusste bereits, als sie selbst nach der Antwort suchte, dass ein Unheil nahte, mit dem sie niemals gerechnet hatte. Wann hatte Regine ihre letzte monatliche Blutung gehabt?
Ja, wann? Sie log, ohne zu zögern. »Gerade vier Wochen.«
»Nun, dann würde ich sagen, Ihr müsst abwarten, ob der unwohle Zustand auch nach der nächsten Blutung wiederkehrt, und mich dann rasch rufen, damit ich einen Aderlass vornehmen kann. Vorher finde ich es nicht ratsam, da sich die reinigende Wirkung mit der naturgemäßen Blutung von selbst einstellen mag.«
Susanne stimmte ihm zu und verabschiedete ihn mit einem Lächeln, das sich so falsch anfühlte wie die ganze Situation. Acht Wochen mussten es her sein, dass Regine ihre letzte Blutung gehabt hatte. Etwas in Susanne weigerte sich noch, ihre böse Ahnung in Worte zu fassen. Sie wusste, dass es wenig Sinn hatte, Regine mit Fragen zu bedrängen, doch sie dachte mit Bangen an die Gelegenheit, bei der ihre Schwester in den vergangenen acht Wochen ohne Schutz gewesen war. Während sie mit Till Zeit bei der Suche am falschen Ort vergeudet hatte, konnte Regine viel zugestoßen sein.
Susanne erinnerte sich daran, wie verwirrt ihre Schwester bei ihrer Rückkehr gewesen war. Sie hatte Lenhardt
nicht gefragt, wann und wie er Regine gefunden hatte oder wann sie an der Tür des Sülfmeisterhauses erschienen war.
An den folgenden Tagen beobachtete sie Regine genau. Am Ende hätte sie Anjes sprechende Blicke nicht mehr gebraucht, um sich die Wahrheit einzugestehen. Regine war schwanger. Während sie selbst bei voller Schuld von diesem Unheil verschont geblieben war, hatte es ihre Schwester in ihrer Unschuld getroffen.
Susanne fühlte an diesem Tag Regines Übelkeit so heftig, als wäre es ihre eigene. Sie half ihr, tröstete sie, doch dann schlug sie sich die Hand vor den Mund und floh aus dem Haus. Das Gebot ihres Vaters ein weiteres Mal missachtend lief sie allein durch die Straßen. Als sie das schiefe Haus erreichte, blieb sie ungläubig stehen. Das obere Stockwerk war in sich zusammengebrochen wie eine Pastete. Ziegelbrocken und Holz lagen auf der Gasse, dazwischen ein zerdrücktes Schwalbennest. Vor
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