Salz und Asche - Roman
gut. Regine liebte besonders die Weihnachtsgeschichte und wollte sie wieder und wieder hören. Susanne mochte die Mosesgeschichten des alten Testaments, auch wenn ihr manches darin furchtbar grausam vorkam.
An diesem Abend las Liebhild vom verlorenen Sohn, und Susanne hörte kein Wort davon. Sobald Lene von ihrem Großvater zurückkehrte, band Susanne ihre Schürze ab und drückte sie ihrer Base in die Hand. »Lene, ich muss noch einen kleinen Spaziergang machen. Mir ist nicht wohl.«
Eilig schloss sie die Tür von außen, bevor Lene etwas erwidern konnte.
Zu ihrem Leidwesen gelang es ihr nicht, ungesehen an ihrer geschwätzigen Nachbarin, der Schneidersfrau Künemann, vorbeizukommen, die sich aus dem offenen Fenster ihrer Utlucht lehnte. Es war, als hätte man diese kleinen Vorbauten für neugierige Menschen wie Mutter Künemann erfunden, dachte Susanne. Überall wurden sie jetzt an die Häuser angebaut. »Ach was, die ganze Familie unterwegs heute Abend? Wo wollt ihr denn alle hin?«, fragte die Schneiderin.
»Ich muss nur ein bisschen laufen, weil mir der Bauch vom Abendessen drückt.«
»Da musst du besser kochen oder sparsamer essen. Was soll so Herumlaufen da helfen?«
Susanne nickte ihr freundlich zu, ohne stehenzubleiben. »Es hilft.«
Sie hörte die alte Frau mit »Ts,ts« und abfälligem Gemurmel ihren Zweifel daran ausdrücken und ging umso unbeirrter weiter. Ihr Herz schlug, als wäre sie dabei, aus dem Turm auszubrechen. Statt direkt in die Ohlingstraße einzubiegen, nahm sie den Weg zur Michaeliskirche und näherte sich ihrem Ziel in einem Bogen. Als sie die schiefen Häuser erreichte, verließ sie beinah der Mut. Zwei Frauen aus der Nachbarschaft kamen ihr mit Körben über dem Arm entgegen. Zu ihrer Erleichterung waren sie so in ihr Gespräch vertieft, dass sie keine Zeit für mehr als einen Abendgruß hatten. Susanne trödelte absichtlich, bis die Frauen außer Sichtweite waren, dann sah sie sich ein letztes Mal nach möglichen Beobachtern um und huschte in den schmalen Durchgang zu den Hinterhöfen. Sie spürte, wie Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten herabliefen. Ihre Angst war so stark wie ihre Sehnsucht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die ehrbaren Handwerkerfrauen der Gemeinde auf dem Kirchvorplatz die Köpfe zusammenstecken und mit dem Finger auf sie zeigen. Was war schlimmer als ein Mädchen, das seine Tugend fortwarf? Sie hatte nie geglaubt, dass sie einmal zu denen gehören würde, die damit spielten. Und sie hatte keine Entschuldigung, denn sie wusste genau, was sie tat.
Ein Blick in den Winkel zwischen Haus und Kaninchenstall ließ ihr Herz sinken. Jan war noch nicht da. Was, wenn er nicht kam?
Das alte Haus begrüßte sie mit einem Krachen im Gebälk, das lauter war als beim vorherigen Besuch. Als Kind
hatte sie Häuser für lebende Wesen gehalten und heimlich mit ihnen gesprochen, ebenso wie mit ihren Lieblingsbäumen. Die Sprache des Büttnerhauses kannte sie gut. Sie verstand jedes Knacken der Treppenstufen und jedes Jaulen, das starker Wind im Dachstuhl hervorrief. All jene Geräusche klangen friedlicher als das Ächzen dieses Hauses.
Die schmale Hintertür war in schlechtem Zustand. Ursprünglich war sie einmal grün angestrichen gewesen, doch die Farbe war verblasst. Susanne betrachtete die verzogenen Balken des Türrahmens und berührte die Klinke. Ein Rascheln hinter ihrem Rücken ließ sie zusammenzucken, doch es war nur eine grau-weiße Katze, die sich durch eine Ritze im Zaun gezwängt hatte und nun erstarrte, als sie sich einem Menschen gegenübersah. »Ist schon gut. Ich tu dir nichts«, sagte Susanne. Die Katze erinnerte sie an Schmitts Minka, aber das konnte sie kaum sein, so weit entfernt von der Schmiede.
Wieder knarrten die Balken des Hauses, und im Nachbargarten raschelte es. Vielleicht war es besser, im Haus zu warten, dachte sie und drückte die Klinke zur Probe ganz herunter. Hinter der Tür war deutlich der Klang von Schritten zu hören. Sie fuhr zurück und wandte sich halb zur Flucht, doch es war zu spät, um ungesehen zu entkommen. Die Tür wurde bereits von innen geöffnet. Kurzentschlossen bückte sie sich nach der Katze, die sich in einem Sonnenfleck die Pfote putzte, und streckte ihr die Hand hin. »Hier bist du, Mietz«, sagte sie.
Hinter ihr schnaubte jemand belustigt. »Wolltest du die Katze treffen oder mich?«
Mit einem Seufzer der Erleichterung richtete Susanne sich auf. »Ich dachte, es wäre ein Fremder im Haus. Was machst du denn
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