Salz und Asche - Roman
versuchte sie, sich in die Lage des Mannes zu versetzen, der hinter ihr ging.
Wenn es für ihn und seinen Herrn eine Gefahr darstellte, dass sie ihr Geheimnis entdeckt hatte, dann hätte er besser daran getan, sie gewaltsam festzuhalten. Möglicherweise war er sich aber nicht sicher gewesen, ob der Hudenvogt ihn dabei unterstützt hätte. Schließlich kannte der Mann ihren Vater und ihre Brüder. Vielleicht ließ Rieger sie gehen, weil er dachte, dass sie tatsächlich schweigen würden, doch das hielt sie für unwahrscheinlich.
Eine andere Möglichkeit war, dass es ihm eben doch nicht so wichtig war, das Geheimnis um die Kinder zu hüten, weil er das Unternehmen seines Herrn nicht für unrecht hielt. Sie mochte noch immer nicht glauben, dass er von Waldfels diente, doch wenn es so war, dann steckte vielleicht wirklich eine gute Absicht hinter allem.
Andererseits konnte Rieger auch einfach nur annehmen, dass ihr ohnehin niemand glauben würde. Damit mochte er recht haben. Susanne überlegte kurz, an wen sie sich wenden würde, und wurde dabei von einer Erkenntnis durchzuckt. Selbst wenn sie jemanden fand, der ihr Glauben schenkte und die Warborch durchsuchen ließ: Die Kinder würden nicht mehr dort sein. Das war der Grund, warum Rieger sie begleitete. Er wollte sicherstellen, dass sie mit niemandem über ihre Entdeckung sprachen, bevor der Hudenvogt und die Frau die Kinder fortgebracht hatten. Die beiden trafen dafür gewiss soeben die Vorbereitungen.
Wenn sie dann später endlich jemanden von ihrer Geschichte überzeugt hätte, würden die Beweise fehlen. Auf einmal fühlte sie sich elend und hatte Jans Worte im Ohr. Auf diesem Wege käme man nicht weiter, hatte er gesagt. Sie hatte den beschämenden Verdacht, dass sie durch ihre Hartnäckigkeit Schaden angerichtet hatte. Vielleicht hätte sie doch alles ihm überlassen sollen.
Einen weiteren Schlag versetzte es ihr, als sie nun, viel zu spät, daran dachte, was es für Auswirkungen haben musste, wenn sie ihrem Vater von der ganzen Sache erzählte. Er würde alles andere als erfreut sein, wenn er hörte, was sie getan hatte. Und natürlich würde er fragen, wer sie auf den Gedanken gebracht hatte, zur Hude zu gehen.
Sie verkniff sich zu seufzen. Zuerst einmal musste sie mit Rieger fertigwerden. Ihm zu entkommen war aussichtslos, weil sie auf Regine achtgeben musste. Sie konnte daher nur vorgeben, dass seine Begleitung sie nicht störte.
Hochgestellten, wohlhabenden Frauen folgten häufig Knechte oder Mägde in respektvollem Abstand. Die Bediensteten trugen die Einkäufe und betraten für ihre Herrin die in Kellern gelegenen und manchmal unbehaglichen Geschäfte. Susanne lächelte flüchtig und schlug zielstrebig den Weg zu den Brotbänken ein.
Wenig später überreichte sie wortlos ihrem Verfolger einen mit Roggenbrot gefüllten Leinenbeutel. Ohne ihm einen weiteren Blick zu gönnen setzte sie ihren Weg fort und teilte sich dabei mit Regine ein kleines, süßes Hefegebäck. Halb erwartete sie, dass Rieger protestieren würde, doch er tat ihr den Gefallen nicht. Er verzog keine Miene und nahm die Rolle als Bediensteter hin wie jemand, der darin viel Übung hatte.
Erst vor der Hofeinfahrt ihres Hauses wandte Susanne
sich ihm wieder zu und streckte die Hand nach ihrem Beutel aus. Er händigte ihn ihr aus und deutete ohne die geringste Ironie eine Verbeugung an. Anstatt zu gehen blieb er jedoch stehen und musterte das Haus, als würde er es sich genau einprägen.
»Also dann, auf Wiedersehen und vielen Dank für Eure Dienste«, sagte Susanne.
Vom Hof her drangen Liebhilds und Tills Stimmen zu ihr. »Da ist sie endlich!«, rief Liebhild und kam mit klappernden Hüpfern zu ihr gelaufen. Rieger richtete seinen Blick auf ihre kleine Schwester, und in seiner Miene schimmerte etwas Bösartiges. Susanne bekam eine Gänsehaut. »Auf Wiedersehen«, wiederholte sie scharf. Mit ausgebreiteten Armen fing sie sowohl Regine als auch Liebhild ein und drängte sie beide zurück auf den Hof und Till entgegen. Rieger folgte ihr nicht, was auch daran liegen mochte, dass Till mit eingestemmten Armen dastand und ihn misstrauisch betrachtete. So deutlich war es Susanne noch nie aufgefallen, dass auch ihr zweiter Bruder ein erwachsener Mann geworden war, der durchaus schlagkräftig wirken konnte, wenn er es wollte. Sie war über seine Anwesenheit selten so froh gewesen wie in diesem Moment.
Liebhild zerrte ihr am Rock. »Suse, meine kleine Asche sitzt auf dem Kirschbaum und kann
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