Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
und sein Haar zu berühren – nur um mit seiner Miene besser vertraut zu werden. Doch sie gestattete es sich nicht. Es wäre eine viel zu intime Geste gewesen. Wenn sie ihn berührte, würde er sich ihr nähern. Ihn anzufassen hieß ihn einzuladen.
Er meinte vielleicht, sie bemerke seine mühsam beherrschte Leidenschaft nicht, doch dem war nicht so. Sie hatte sie nicht gleich bemerkt, doch jetzt hatten sie schon so viele Stunden zusammen verbracht, und sein Verlangen und seinen Hunger empfand sie wie seine unnachgiebige Beherrschung nur allzu klar. Wenn er sie berührte, wußte sie, daß er es genoß und es ihm schwer fiel, sie wieder loszulassen. Eventuell machte die geistige Verbindung sie so klarsichtig oder auch ihre Angst. Sie wußte es nicht und wollte es auch nicht wissen.
Er war ein Vampir. Er trank ihr Blut, doch er war auch gütig, und selbst wenn er es nicht sein sollte, so war er dennoch ihre einzige Hoffnung. Sie fragte sich, wie lange er seine gefesselte Leidenschaft, sein Sehnen und seinen Hunger würde beherrschen können und wie schmerzhaft und entsetzlich es sein würde, wenn sein wirkliches Wesen den Damm freundlicher Güte durchbrach.
„Charly? Wo sind deine Gedanken?“ Fast hatte sie die dünne geistige Verbindung verloren. Furcht löste sofort Abwehr aus.
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich war unkonzentriert.“
„Ich kann deine Angst riechen. Was ist?“
Sie konnte es ihm nicht sagen. Wie auch? Er hielt den schönen Schein aufrecht, sie sei für immer und ewig sicher in seinen Händen, und sie vergalt dies, indem sie vorgab, ihm bedingungslos zu glauben.
Sie hätte es gerne geglaubt. Es hätte alles so viel einfacher gemacht. Doch sie war nicht einfältig genug, um nicht zu wissen, daß sie mit jemandem durch die endlose Nacht ging, der schließlich doch tun würde, was er wollte. Es war nur eine Frage der Zeit. Was würde zuerst kommen, ein Ausweg aus dem Gebirge oder das Ende seines Durchhaltevermögens?
„Tut mir leid“, sagte sie noch einmal. „Ich sollte meine Gedanken zusammenhalten.“
„Ja“, tadelte er gutmütig, und sie spürte seine Hand auf ihrem Antlitz. Er streichelte ihre Wange mit der Rückseite seiner Finger. Kühle Fingernägel glitten über ihre Haut. Er liebte es, sie zu berühren. Er konnte es sich nicht verkneifen, und ihr war klar, daß sie, wären die Dinge nur anders gewesen, es vielleicht gemocht hätte. Seine Berührung war liebevoll und sanft.
Sie riß ihre Gedanken fort von dem Thema. Aufgeben. Sie mußte sich aufgeben. Dann war es wieder da, das unheimliche Wissen darüber, wohin sie ihre Füße setzen sollte und wohin sie ging, ganz ohne etwas zu sehen.
„Erzähl mir von Sevyo“, forderte er sie auf. Er versuchte, sie von ihrer Furcht und den nervösen Grübeleien abzubringen.
Eine Weile schwieg sie. Sie wollte nicht über den Kindheitsfreund sprechen. Sie wollte die Erinnerung an ihre Freundschaft, und an die Unschuld dieser Freundschaft nicht zerreden. Sie wußte, daß er ihren Dryas anders sah als sie.
„Er kannte wunderbare Spiele, als wir Kinder waren. Wir haben im Wald gespielt, ganz nah an seinem Baum. Wir haben uns Geschichten ausgedacht, haben sie gespielt, und sie waren immer so wirklich. Meist war er so alt wie ich, und er war so schön. Schön genug für uns beide – ich habe mich nie ungenügend gefühlt, wenn er in der Nähe war. Es war nie wichtig, wie ich aussah, ob ich mich brav und sittsam aufführte oder meine Erscheinung den Erwartungen der Welt gerecht wurde. Es war nichts, worüber ich bei ihm nachdachte. Meine Erzieherinnen, Kinderfrauen und vor allem natürlich meine Eltern, wenn sie denn mal zu Hause waren, waren ganz anders. Ich habe es nie geschafft, ihre Erwartungen zu erfüllen.“
„Was haben sie denn von dir erwartet?“
„Sie hätten gerne gehabt, daß ich wäre wie andere Mädchen unserer Kreise, wohlerzogen, folgsam, fleißig, brav, respektvoll, süß und niedlich und vieles mehr. Doch ich war nur ein Wildfang, der zum Spielen in den Wald davonlief und nicht hörte, was man ihm sagte, und ich war auch kein hübsches Kind. Genau wie ich eben auch keine hübsche Frau bin.“
Er drückte ihre Hand und half ihr über einen Felsvorsprung. Im Augenblick kamen sie recht einfach voran, doch das Gelände konnte jeden Moment wieder schwieriger werden.
„Du unterschätzt dich“, sagte er. „Du bist kein graziöses Fräuleinchen und auch keine klassische Schönheit, aber du bist trotzdem
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