Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Cérise Denglots. Ihr Gesicht war zur herablassenden Grimasse verzogen und ihr Haar in Locken aufgetürmt, die alle aus Männergesichtern bestanden. Zu ihrem amüsierten Entsetzen fand sie auch ihren Gatten darunter. Er sah verdrießlich aus. Wer immer das gezeichnet hatte, mußte die Sängerin gut kennen – und auch Philip. Sie war versucht, das Bild zu stehlen, gebot ihrer diebischen Ader jedoch Einhalt. Sie war nun eine brave, ehrliche Ehefrau, keine kleine Diebin mehr.
Sie besah sich die restlichen Bilder. Ein aufschlußreiches Aktbild von Cérise war darunter. Die Sängerin räkelte sich hüllenlos auf einem zerwühlten Bett, das wohl Schauplatz einer wilden Liebesnacht gewesen war. Das Bild war ausnehmend detailliert und gänzlich unmoralisch. Erschreckend intim. Es machte deutlich, daß, wer auch immer es gezeichnet hatte, sich dafür nicht auf seine Vorstellungskraft allein hatte verlassen müssen.
Philip konnte es nicht gewesen sein. Sein künstlerisches Talent hielt sich in Grenzen. Doch wer hatte es gezeichnet?
Corrisande dachte an Asko, den sie erst am Morgen gesehen hatte. Aber sie verwarf den Gedanken. Er war nicht der Typ für geheime Liebesabenteuer und schon gar nicht der Typ, der so etwas zu Papier brachte. Sicher konnte sie allerdings nicht sein. Die Herren der Schöpfung hatten ab und zu verborgene Abgründe, die man von außen nicht wahrnahm.
Doch es sah ihm nicht ähnlich. Sie sah sich den Rest der Bilder an, und das letzte zeigte sie selbst. Sie kauerte auf dem Boden und starrte angstvoll und schreckensbleich auf etwas, das man im Bild nicht sehen konnte.
Es mußte von Görenczy sein. Nur er, Philip und Asko hatten sie je so gesehen. Wenn es Philip und von Orven nicht waren, so blieb nur von Görenczy – vermutlich auf gemeinsamer Mission mit von Orven.
Er war nicht im Haus. Vielleicht war er unterwegs und malte.
Die übrigen Zimmer gehörten den Wirtsleuten. Sie besah sich einige Dinge, fand aber nichts, das sie weiterbrachte. Es gab keine Briefe, nichts, was Licht auf die Angelegenheit geworfen hätte.
Nachdem sie ihre Spuren verwischt hatte, ging sie wieder nach unten, wo die beiden anderen Damen immer noch jedes Mitglied des Hauses mit wortreichen Diskussionen festhielten. So bezaubernd hier. So verträumt. Erzherzog Johann und das alles. Ganz wie in einem Roman. Kamen viele Sommerfrischler her? Jäger eventuell? Oder Bergsteiger, die die Natur liebten? Wie schön es hier war!
Cérises Gesicht war auf entzückendes Lächeln eingestellt, sie spielte ihre Rolle wie auf der Bühne. Ihr fehlte nur ein Libretto. Frau Treynsterns Freundlichkeit wirkte ein wenig forciert, und sie sah erleichtert aus, als Corrisande mit einem süßen, unschuldigen Lächeln auf den Lippen zu ihnen trat.
Sie schaltete sich gleich in die Unterhaltung ein und pflichtete der letzten Begeisterungsäußerung kräftig bei. Wirklich, hier war es schön. Wie gerne sie doch ein Bild von dieser Landschaft als Andenken zurück mit nach England nähme. Ob es wohl viele Künstler gab, die herkamen, um zu malen? Wie schade, daß im Moment keiner da war, sie würde ihm sofort ein Bild abkaufen.
Die Wirtin sah sie mißtrauisch an, sagte aber nichts. Ihr Ehemann konnte einem unschuldigen Augenaufschlag weit weniger gut widerstehen. Die Heirat hatte Corrisande nicht alle ihre Tricks vergessen lassen.
Tatsächlich hatten sie zurzeit einen Künstler zu Gast, erzählte er. Doch der war unterwegs, malte und war schon geraume Zeit nicht zurückgekommen. Vielleicht würde er der Dame ja ein Bild verkaufen, wenn er zurückkam.
„Aber das wird er doch sicher heute Abend?“ fragte Sophie mit einem Lächeln, dessen Süße ihre verblaßte Anmut neu aufleuchten und Corrisande verstehen ließ, warum Arpad sie damals erwählt hatte. „Oder wird er vermißt?“
Diese Frage veranlaßte Wirt und Wirtin, sich an ihre Aufgaben im Hause zu erinnern, die sie so pflichtvergessen vernachlässigt hatten, und sie suchten höchst eilig das Weite. Die Damen hatten daraufhin ihren ersten Spaziergang gemacht, und nun waren sie wieder draußen, im Dunkel der Nacht.
„Er hat Bilder von mir gezeichnet?“ fragte Cérise zum wiederholten Mal, und Corrisande bedauerte bitter, daß sie ihren Begleiterinnen von den Bildern erzählt hatte. „Könnten Sie nicht noch einmal in das Zimmer einbrechen und sie mir holen? Ich würde sie wirklich gern sehen. Ich wußte, daß er kein schlechter Künstler ist. Er hat mir einmal eine Porträtzeichnung gemacht,
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