Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
mit ehernem Griff nach seinem Herzen. Auf dem Stamm war es nicht so schlimm gewesen, denn zumindest sein Rumpf hatte nicht im Wasser gelegen.
Er sah sich um. Nirgends ein Licht. Er mußte die Richtung raten. Doch die Stimmen hörte er noch.
„Also nochmal: Erst schießen, dann fragen. Sí können eine Kugel im Herzen überleben. Dieser gottverdammte Graf Arpad hat sie auch überlebt.“
Corrisande würde sie nicht überleben. Sie würde sterben, und er auch.
Mit dem letzten Rest Kraft versuchte er, den Stimmen zu folgen. Sie wußten, in welche Richtung sie mußten, er nicht, und es war einerlei, ob er erschossen werden würde oder ertrank. Es ging nur noch darum, alles versucht zu haben.
Kapitel 47
In dem Augenblick, in dem Corrisande das Wasser berührte, begann aus Richtung des Gasthofs eine Frauenstimme gellend um Hilfe zu rufen. Sie schrie teils auf Französisch.
„Marie-Jeannette!“ rief Corrisande alarmiert. Marie-Jeannette hatte eine schrille Stimme. Sie schrie hysterisch und mit außerordentlich vielen Worten. Die Auswahl ihres Vokabulars war dabei ebenso anstößig wie beachtenswert.
„Laßt mich los, ihr Dreckskerle!“ schrie sie. „Laßt mich sofort los! Nehmt eure dreckigen Pfoten von mir! Ich bin kein Feyon! Sehe ich verdammt noch mal aus wie ein Gespenst? Sehe ich aus wie ein verdammter Wassermann? Ich sag‘s der Polizei! So etwas ist verboten! Vier Männer, die ein ehrbares Mädchen angreifen!“
Ihre Schreie waren weit entlang des Ufers zu hören, so auch gut zweihundert Schritte weiter im Buschwerk, wo die drei Damen sich vor den Blicken Fremder verbargen. Alle drei machten Anstalten, dem Mädchen zu Hilfe zu eilen, und taten es dann doch nicht.
Die folgende Diskussion am Gasthof war nicht Wort für Wort zu verstehen, aber im großen und ganzen konnte man ihr folgen. Männer waren gekommen, um einen Gast, der ein Sí sein sollte, gefangenzunehmen. Als einzige Fremde hatte man Marie-Jeannette aus dem Haus gezerrt.
„Sie suchen mich“, flüsterte Corrisande panisch. Sie hatte die furchtbare Nacht nicht vergessen, in der die Bruderschaft sie entführt hatte und in der ihr klar geworden war, daß es Menschen gab, die ihr jeden Wert und jede Berechtigung zu leben absprachen. Sie erinnerte sich noch an den Schmerz und die Angst und ganz besonders an die Demütigung. Sie spürte noch die verquere Freude der Männer darüber, daß sie sie gefangen hatten und mit ihr tun konnten, was sie sollten. Sie war kein Mensch. Sie war weniger als ein Tier. Sie atmete etwas zittrig ein.
„Ich glaube nicht, daß sie in Gefahr ist“, sagte sie. „Auch Sie sind wahrscheinlich nicht in Gefahr. Die Leute suchen einen Sí. Ich werde mich unter Wasser verstecken. Ich hoffe nur …“
Sie beendete den Satz nicht, sondern glitt eilig ins eisige Wasser, dessen Intensität sie schnell einhüllte. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag unendlich laut in ihrer Brust, halb aus Angst, von den Männern gefangen zu werden, halb weil sie fürchtete, Beute des Wassers zu werden. Sie konnte nur darüber spekulieren, was furchtbarer sein mochte. Was sie von Feyonhassern zu erwarten hatte, wußte sie. Was ihr in dieser stimmgewaltigen Flutenwelt bevorstand, konnte sie nicht einmal erahnen.
Der Grund fiel rasch ab, man konnte nicht langsam in den See gehen oder sich an die Temperatur gewöhnen. Eine eiskalte Welt schloß sie ein. Sie zögerte nicht, sondern tauchte tief in die schwarzen, harschen Gewässer. Das Dunkel schlug über ihrem Kopf zusammen.
Die Absenz menschlicher Stimmen war das erste, was ihr auffiel. Der Streit vor Ladners Gasthof war verschwunden. Ihre Ohren dröhnten. Sie versuchte, die Luft anzuhalten, wollte gar nicht erst probieren, unter Wasser zu atmen. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie das getan, und das war unfreiwillig gewesen. Sie war nicht ertrunken, zumindest nicht durch Wasser in der Lunge, allerdings sehr wohl durch die Übermacht der Fluten; sie hatte ihr Selbstverständnis verloren, ihre Erinnerung, ihre Hoffnung.
Davor fürchtete sie sich am meisten. Wenn sie sich im Wasser verlor, würde sie nicht mehr zurückfinden. Diesmal war kein Philip in der Nähe, der sie aus den Fluten ziehen und wiederbeleben würde. Wahrscheinlich war keine der beiden Damen scharf auf ein Bad im eiskalten Naß. Auch war dies kein kleiner Zierteich wie in München, sondern ein großer, tiefer See voller Leben, Macht und Energie.
Sie tauchte tiefer, und das Wasser drückte sie nieder wie ein Mühlstein. Noch
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