Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
hielt sie den Atem an, das letzte bißchen Luft, an dem sie ihr Menschsein festmachte. Ihre Lunge brannte, und sie mußte dringend einatmen. Doch sie wußte mit absoluter Sicherheit, daß es unerläßlich war, außer Sichtweite zu bleiben. Wer immer da versuchte, sie zu fangen, war vermutlich per Boot gekommen. Von einem Boot aus war es leicht, sie zu jagen oder auf sie zu feuern, wenn sie sich über Wasser zeigte.
Sie begann still zu beten, dann öffnete sie den Mund, gab den letzten Rest Atemluft frei und öffnete dem Wasser den Weg in ihre Lunge. Das eiskalte Naß unterwarf sie brutal, durchbohrte ihren Brustkorb wie eine Lanze. Sie konnte noch nicht einmal schreien, als es sich in ihrer Lunge ausbreitete, in die letzten Gefäße ihrer Bronchien schoß. Vor Schmerz war sie wehrlos.
Sie blieb reglos, trieb im Wasser, sank, kaum bei Bewußtsein. Der Lärm in ihren Ohren hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, die sie geschlossen hatte, um das Furchtbare nicht mit ansehen zu müssen. Ein riesiger silberner Fisch glitt an ihr vorbei. Sie spürte seinen abschätzenden gelben Blick. Er sah sie verlangend aus großen, hungrigen Augen an. Er wartete auf ihren Tod.
Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Empfindungen türmten sich zu Schuldbergen. Sie hatte die Gefahr unterschätzt. Sie hatte ihre Fähigkeiten überschätzt, sich auf ein Talent verlassen, das sie vielleicht gar nicht mehr besaß. Sie war dabei zu ertrinken, starb, erstickte, und der Schmerz zerriß sie. Sie hatte Philip im Stich gelassen, als er sie brauchte. Sie hatte ihr Kind zum Tode verurteilt. Tiefe Zerknirschung überfiel sie. Dann verblaßte die Welt und sie mit ihr.
Sie weinte und glaubte es nicht. Unter Wasser weinen? Unmöglich. Doch sie tat es, seufzte, jammerte und bemerkte, daß die Welt plötzlich grau und blau und grün war. Auch schien es ihr nicht mehr dunkel, höchstens etwas düster. Sie konnte klar alles um sich erkennen und blinzelte einen Augenblick lang den seltsamen Visionen entgegen. Ihre Wirklichkeit schien weit fortgetrieben zu sein. Sie befand sich in einer Landschaft, die an ein Aquarell gemahnte, und sie war nicht mehr allein. Sie hatten sie gefunden.
Du bist gekommen, sagte eine vielfältige Stimme, die klang wie ein Chor, mal mehrstimmig, mal einstimmig. Sie mußte sie schon vorher gehört haben, doch nicht bewußt. Du bist gekommen, sagten sie wieder. Du wirst bleiben. Du gehörst zu uns. Laß los. Laß alles los!
Sie ließ nicht los, sondern hielt mit verzweifelter Beharrlichkeit an ihren Erinnerungen fest. Philip, murmelte sie ins Wasser, ich verspreche, ich werde dich nie vergessen. Ich schwöre es.
Wer ist Philip? neckten die Stimme, jagten um sie herum, liebkosten sie. Nichts als ein Sterblicher, gaben andere Stimmen zur Antwort. Nur ein Mensch.
Ich bin auch sterblich, sagte Corrisande dem Wasser, sah sich dabei um, beobachtete, wie die letzten Luftblasen aus ihrem Mund strömten und wie Perlen nach oben entkamen, hinauf zur Nacht, die sich nutzlos darüber erstreckte. Ich bin nur ein Mensch. Laßt mich gehen. Ich will hier nur etwas warten. Seid barmherzig, wer immer ihr seid.
Sie war auf den Seegrund gesunken, wo fedrige grünliche Wasserpflanzen in einem fremdartigen Takt hin und her wogten, als tanzten sie zu einer lautlosen Musik. Sie nahm Platz auf einem seegrün bezogenen Fels, drapierte ihr Badekostüm ordentlich um sich herum. Ganz deutlich konnte sie jetzt sehen, ihre Augen hatten sich an die neue Umwelt gewöhnt. Es war bezaubernd hier, ganz anders.
Barmherzig? fragten die Stimmen neben ihr. Wasser ist nicht barmherzig. Wir sind, was wir sind, der Kreislauf des Lebens, die Macht des Regens, sind Schnee und Fluß und Meer. Du gehörst zu uns. Wir können dich zu einer von uns machen, und du wirst allzeit mit uns singen.
Nein, herzlichen Dank, antwortete sie höflich. Ihr meint es sicher gut, doch ich bin nur ein Mensch, und ich muß zurück in meine Welt.
Diese Welt wird dich ermorden, sangen sie, bald schon. Du gehörst dort nicht hin. Dein Element ist das Wasser. Du mußt mitkommen. Du kannst deine Vorfahren in der Pracht des Meeres wiederfinden. Du kannst über den Gebirgen regnen.
Lieber nicht, gab sie zur Antwort. Es gibt nur eins, was ich will: daß Philip in Sicherheit ist. Wasser lockt mich nicht. Ihr lockt mich nicht. Ich bin ein Mensch. Ich liebe Philip.
An diesem Gedanken versuchte sie sich festzuhalten. Doch die Liebe, die eben noch eine bleibende
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