Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
verloren, wußte nur, daß es immer weiter ging, sie lief, stieg, kletterte hinab, kroch steile Wände hoch oder hinunter, quetschte sich durch Durchgänge, die kaum groß genug waren, um ihren Körper durchzulassen. Ihre Haut war mit blauen Flecken übersät. Sie spürte sie, sehen konnte sie sie nicht. Er war dünner und schmaler als sie, viel beweglicher und graziler, und es war ihr unendlich peinlich gewesen, als er sie ein- oder zweimal mit ziemlicher Gewalt aus einem Spalt gezogen hatte, in dem sie steckengeblieben war. Ihre Hüften waren breiter als seine, ihr Hintern um einiges runder, und selbst ihre Brüste waren für diese Art von Abenteuer nicht geschaffen. Sie waren zu groß und schienen dauernd im Weg zu sein. Einmal hatte ihr Gefährte sie tatsächlich mit den Händen niedergedrückt, um sie durch eine schmale Öffnung zu bugsieren. Sie war vor Scham fast gestorben.
Er sagte ihr, sie gingen nie länger als drei Stunden am Stück, doch ihr kam es um ein Vielfaches länger vor. Wenn sie Pause machten, schlief sie meist aus Erschöpfung ein. Sie merkte zusehends, wieviel Kraft es sie kostete, ihn zu nähren, und ihr wurde immer deutlicher, daß sie sehr bald einen Ausgang würden finden müssen.
Blind zu sein machte alles noch schwerer, auch wenn sie wußte, wohin sie ihre Füße setzen mußte und sogar eine gewisse nichtvisuelle Wahrnehmungsfähigkeit durch die Verbindung mit ihm hatte. Manchmal war sie froh, nichts sehen zu können, sich nicht damit beschäftigen zu müssen, wie sie in ihren zerfetzen Kleidern aussah.
Ein großer Riß klaffte über ihrer linken Brust in ihrem Kleid. Kalkstein war scharf und zackig. Sie hatte vor Schmerz geschrien, als ein Felsvorsprung ihr in den Busen geschnitten hatte, und sich eisern zusammengenommen, als er sie heilte. Sein Gesicht hatte sich auf ihre Brust gesenkt, während seine Hände sie an den Armen festhielten. Dabei hielt er sie so, daß sie sich nicht bewegen konnte, und schloß die Wunde mit dem Mund. Nicht schreien, hatte sie sich gesagt. Dann hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung festgestellt, daß ihr nicht nach Aufschreien war. Die Schreie, die sich in ihrem Sinn angestaut hatten und ihr seit dem Überfall das Denken erschwerten, hatten keine Macht mehr über sie. Seine Nähe hatte aufgehört, die extreme Panik auszulösen, die ihr den Verstand vernebelte. Sie stand still, wehrte sich nicht, akzeptierte, was geschah, mit einer besorgten, doch gefaßten Distanz. Er heilte sie. Das war alles. Sie konnte das annehmen, sie mußte sich nur konzentrieren.
Sein Griff lockerte sich. Erstmals konnte sie die Behandlung wirklich mit ihrem Verstand begreifen, analysieren, was er mit seiner Zunge und seinen Lippen auf ihrer Haut tat. Der Schmerz verschwand schnell, wie immer, wenn er sie heilte, und sie verstand, daß seine Gabe nicht nur seine Opfer schützte, sondern auch eine Liebkosung war. Kein Angriff. Es war ihr Problem, daß sie es nicht entsprechend genießen konnte.
Er hob das Gesicht und stand bewegungslos. Da wurde ihr klar, daß der Terror, den sie bislang immer gefühlt hatte, sie zu einem gewissen Maß geschützt hatte. Er hatte die Angst riechen können. Nun roch er, daß sie nicht mehr da war. Ihr Schutz war zerstört. Er war ein Mann, sie war eine Frau und kein verängstigtes Kind.
„Charly“, sagte er, und in seiner Stimme schwang eine besondere Intensität. Er wollte mehr sagen, suchte nach den richtigen Worten. Ihre Haut prickelte, wo seine Zunge an ihr entlanggeglitten war. Seine Hände hielten sie immer noch fest, sehr fest, sie konnte seine intensive Kraft spüren.
Sie standen stumm voreinander. Sie spürte seinen Odem auf ihrem Antlitz, und dann kam sie zurück, die Angst, wie ein geschlagener Feind kroch sie durch ein Hintertürchen wieder in ihren Geist, bekämpfbar aber noch nicht besiegt, und nistete sich in ihrem Herzen ein.
„Nein“, flüsterte sie. Ihre Stimme bebte. „Nein!“
Seine Hände ließen sie nur widerwillig los, Finger für Finger, ganz langsam. Ein Finger fuhr ihr sacht über die Wange, dann über ihr Kinn, erforschte ihren Hals, verweilte am Schlüsselbein. Eine nicht endenwollende Sekunde lang war sie sich sicher, daß seine Beherrschung jetzt brechen würde, und sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, schloß ihre Seele um sich herum, wie man seine liebsten Besitztümer in Sicherheit brachte vor einem Sturm. Dann verschwand die Berührung.
„Ich komme zurück“, sagte er. Seine Stimme klang rauh und
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