Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
könnte, wäre alles einfacher. Sevyo hätte ihre Hand auch gehalten. Sie versuchte, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren.
„Es gibt eine Erzählung“, sagte sie, „wonach vor langer Zeit zwei Bergleute hier verloren gingen. Sie kamen auf der anderen Seite des Gipfels heraus, über dem Toplitzsee. Manchmal haben Leute versucht, den Weg zu finden. Aber niemandem gelang es. Das Bergwerk ist seit Generationen stillgelegt. Vor Jahrhunderten war sie im Besitz meiner Familie, doch dann fielen die Bergwerke alle an die Krone. Der Salzabbau lohnt sich nicht mehr. Der Hauptabbau ist auf der anderen Seite des Tales. Hier gibt es kaum Salz. Der Berg ist aus Kalkstein.“
„Das ist gut. Kalkstein ist voller Höhlen, und Höhlen führen irgendwann ins Freie.“
Nicht immer, dachte sie, aber sie schwieg.
„Wir werden einen Weg durch den Berg finden. Du mußt gehen können, klettern und springen. Das kannst du nur, wenn du etwas siehst. Also wirst du mit meinen Augen sehen, und dazu mußt du lernen, mir zu vertrauen, und zwar ohne jeden Zweifel. Wir werden daran arbeiten. Meinst du, du kannst das?“
Sie wußte es nicht, nickte aber. Sie wollte nicht, daß er sie wieder alleinließ. Also würde sie lernen, ihm zu trauen.
„Ich reise bei Nacht, Charly, denn ich sehe an einem hellen Sonnentag so wenig wie du jetzt. Wenn es bewölkt ist, kann ich mich gut orientieren. Ich habe eine Brille mit dunklen Gläsern. Doch meist bin ich nachts unterwegs, und ich lenke mein Pferd mit einem kleinen Zauber. Rosa traut mir vollkommen und hat gelernt, ihre Schritte nach dem zu setzen, was ich sehe. Auf gewisse Weise sieht sie durch mich, wenngleich nicht mit ihren Augen, sondern mit ihrem Zutrauen. Dich kann ich genauso durch diesen Berg führen, doch dazu mußt auch du mir vertrauen, und das, obgleich ich dich manipulieren und mir deinen Geist erschließen werde. Du mußt aufhören, gegen mich zu kämpfen, denn so ich auch die Macht habe, dich gegen deinen Willen zu lenken, würde das nicht nur dich, sondern auch mich erschöpfen. Du würdest sehr darunter leiden. Du kannst nicht gegen mich an.“
Wieder ließ er ihre Hand nicht los. Diesmal fragte er nicht, ob sie glaubte, das zu können.
„Ich verstehe, daß das schwer ist“, fuhr er fort, „weil du spürst, wenn man dich manipuliert, und es haßt. Diesen Ekel mußt du überwinden – und noch mehr. Ich werde deinen Rock kürzen, damit du beim Klettern nicht darüber fällst, und ich werde dich immer wieder anfassen müssen, während wir unterwegs sind, nicht nur deine Hand. Wenn wir uns ausruhen, werden wir uns aneinanderkuscheln, denn hier ist es kalt, Charly. Ich bekomme keine Erkältungen, aber du wirst nicht überleben, wenn du dir eine Lungenentzündung holst. Wir werden es uns also in deinem schönen, warmen Mantel gemütlich machen, und du wirst in meinen Armen schlafen, und wenn du gestärkt aufwachst, werde ich von deinem Blut trinken, denn auch ich muß bei Kräften bleiben.“
Sie versuchte, ein Jammern zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht völlig.
„Ich weiß, das ist schwer für dich. Doch das sind die Bedingungen. Du mußt sie akzeptieren, wenn du weiterleben willst.“
Sie sagte nichts, und er fuhr fort: „Es gibt einen anderen Weg, wenn du für diesen nicht den Mut aufbringst. Ohne mich wirst du stürzen und dich verletzen. Vielleicht würde es Tage dauern, bis du stirbst, qualvolle, lange, finstre Tage. Das kann ich nicht zulassen. Wenn du den Herausforderungen des Lebens nicht gewachsen bist, werde ich dir helfen zu sterben. Es wird nicht wehtun. Ich bin sanft. Ich kann dir zur Flucht aus dieser Welt helfen, wenn du ihre Erfordernisse nicht mehr erträgst. Ich lasse dir die Wahl.“
Es klang hart und empfindungslos, wie er ihr die Aussichten auflistete. Doch er war ehrlich, und das konnte sie akzeptieren. Er hatte ihr eine furchtbare Wahl gelassen. Sie hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Ihre Kehle bebte beim Atmen. Er konnte sie jederzeit töten, das wußte sie. Aber gefragt zu werden, ob sie das wünschte, war beängstigend.
„Sie würden mich töten – wie?“ fragte sie.
„Ich würde dein Blut trinken und dir den Hals brechen. Aber ich will es nicht. Ich will viel lieber, daß du lebst. Soll ich dich zum Nachdenken alleine lassen?“
Sie schwieg. Ihre Gedanken waren voller Worte und Bilder. Ihr Geist würde von ihm gelenkt, ihr Körper an seinem ruhen, seine Zähne in ihr Fleisch dringen, er würde ihr Blut trinken.
Weitere Kostenlose Bücher