Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
hilflos zwischen Scylla und Charybdis. Der Tod lauerte auf jeder Seite.
Sie fühlte, wie er sich lautlos neben sie setzte. Er nahm ihre linke Hand. Sie spürte seine Nähe, wollte sich ihm entziehen, zwang sich, sitzen zu bleiben. Er hielt nur ihre Hand. Mehr nicht. Im Moment.
Kapitel 24
Untermoser war tot. Ein Felsbrocken hatte ihm den Schädel zerquetscht. Er war nicht schnell genug der Lawine ausgewichen, die den Eingang zur Mine verschüttet hatte. Damit waren drei Kameraden gefallen. Verdammt sollte er sein, der Feyon, und das Mädchen dazu. Leopold war wütend und gab seinem Pferd die Sporen, obgleich es keine gute Idee war, allzu hastig durch die Dunkelheit zu reiten.
Er wünschte, er könnte Charlotte in seine Hände bekommen und ihr ganz langsam den Hals umdrehen. Gemocht hatte er sie nie. Als sie Kinder waren, hatte sie deutlich gemacht, daß sie nichts mit ihm zu tun haben wollte, und zu einer zarten, süßen Schönheit hatte sie sich auch nicht eben entwickelt. Im Grunde war sie ein furchtbarer Blaustrumpf. Sie las die falschen Bücher, stellte die falschen Fragen, gab die falschen Antworten, und er hatte auch nicht die Art Respekt gesehen, die eine junge Dame Herren gegenüber an den Tag legen sollte. Ganz besonders einem Herrn gegenüber, von dem sie glaubte, er freie um sie.
Sie war viel zu unabhängig. Sie benahm sich freidenkerisch, wie man es von der Bohème erwarten mochte. Hemmungslose Offenheit mochte er von einer Schönheit der Bühne akzeptieren, mit der man Affären hatte und die man schnell wieder ablegen konnte.
Doch nicht einmal dafür war sie anziehend genug. Zum einen war sie zu groß. Er mochte es, wenn Frauen zu ihm aufsahen – in jedem Sinne. Selbst von seinen Liebhaberinnen erwartete er Ehrerbietung und Gehorsam. Schließlich waren sie Frauen. Ehrerbietung und Gehorsam sollten in ihrer Natur liegen.
Viele Affären hatte er nicht. Er hatte nicht die Zeit dafür, und er mochte die Einstellung nicht, die in den Kreisen herrschte, in denen man Unmoral als alltäglich akzeptierte. Natürlich mußte man als Mann seine Bedürfnisse befriedigen, dem Ruf des Fleisches folgen, doch er zog es vor, für solche Vergnügungen zu bezahlen. Wer Geld hatte, dem bot Wien charmante junge Mädchen, die jeden Wunsch erfüllten. Mittellosigkeit und die Neigung der niederen Klassen zu Lüsternheit und Verderbtheit garantierten eine nicht endenwollende Flut von süßen Mädeln, die ihre Beine für Herren mit dicken Brieftaschen breitmachten.
Doch Charlotte paßte in keine Kategorie. Sie war weder süß noch lieblich, obgleich er zugeben mußte, daß sie ganz ansehnlich war, wenn man ihren Stil mochte. Er mochte ihn nicht, und daß er überhaupt über sie nachdachte, lag an der Wut, die er gegen sie fühlte. Er hatte diese Nacht genau geplant. Es hatte ihn einiges an Überzeugungskraft und noch mehr Bestechungsgelder gekostet, um etwas über von Sandlings einstigen Bekannten herauszufinden. Der alte Sandling war wie seine Nichte – oder sie wie er. Er akzeptierte keine Regeln von Anstand und Sitte, ihm fehlten jede moralische Grundlage. Er war ein Landesverräter und gefährlicher Freigeist – und ein Feyonfreund, genau wie Charlotte.
Vor Jahren war Leopold ihr in den Wald gefolgt und hatte sie und ihren Freund zusammen spielen gesehen. Sie war damals fünfzehn gewesen, und der Feyon sah gleichaltrig aus. Von Waydt war klar, daß der atemberaubend schöne Spielkamerad des Mädchens mehr gewesen war als nur ein heranwachsender Knabe. Die Spiele im Wald waren nicht so lauter, wie die beiden vorgaben. Die Sí waren bekannt für ihre Schliche und Verlockungen. Sie verführten Frauen.
Er hatte ihre Eltern informiert, und die hatten schnell gehandelt. Seine Eltern hatten sich nicht sonderlich bestürzt gezeigt. Sie hatten immer noch die Verbindung zwischen beiden Häusern gewollt. Charlotte war eine Partie gewesen – das einzige Kind wohlhabender und einflußreicher Eltern. Eventuell hätte er sie sogar geheiratet, wären ihre Eltern noch am Leben und könnten ihren Einfluß in politischen Kreisen für ihn geltend machen. Doch sie waren nutzlos gestorben, und unter anderen Umständen hätte er Charlotte nie mehr aufgesucht.
Er war freilich auch nie von dem inoffiziellen Verlöbnis zurückgetreten. Seiner Meinung nach gab es keine Abmachung. Als klar wurde, daß von Sandling in seinen Plänen noch eine Rolle spielen würde, war er froh, die Heiratsfrage offen gelassen zu haben. Natürlich war er
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