Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
für ihn nicht in Minuten oder gar Stunden. Zeit hatte einen Rhythmus, der sich nach den Tages- und Jahreszeiten, nach den Tieren und Insekten, nach den Blumen und Pflanzen richtete.
Zeit ließ sich an der Anzahl der Zeichnungen in Riddles Telefonbüchern messen. Sie wurde sichtbar an Sams Hosen, die ihm zu kurz geworden waren, seit er wieder sieben Zentimeter gewachsen war.
Nur wenige Phänomene waren ihm in seinem bisherigen Leben erschlossen oder erklärt worden. Doch als er jetzt auf einen braunen Wasserfleck an der Decke starrte, der wie ein Cowboystiefel aussah, da machte er sich plötzlich Sorgen.
Schnell schob er diese Gedanken beiseite und dachte lieber wieder an das Mädchen. Wie sie plötzlich aufgetaucht war, mitten auf der Straße. Und seinen Namen gerufen hatte. Sie kannte ihn. Aber ihn kannte doch keiner.
Sie hatte ihm gesagt, sie heiße Emily.
Emily Bell.
Er sah sie vor sich, wie sie klatschnass auf dem Bürgersteig gestanden hatte. Ihr zuliebe musste er sich jetzt was einfallen lassen.
Das war’s, er würde morgen Wäsche waschen gehen. Er würde ihre ganze Schmutzwäsche zusammenpacken und sie in den Waschsalon bringen. Riddle liebte Münzwaschsalons. Ein Raum mit laufenden Maschinen war das Paradies für ihn. Genau, sie beide würden morgen Wäsche waschen gehen.
Seit einem Monat war er nicht mehr dort gewesen. Es war erstaunlich, wie viele Tage hintereinander man dasselbe tragen konnte, bis es einem zu eklig wurde. Vielleicht packte er die beiden grauen Handtücher im Bad mit ein und wusch sie auch mal wieder.
Wahrscheinlich würden sie sich nicht nur einfach vor dem Restaurant mit dem blauen Dach treffen, bestimmt wollte sie auch gern da reingehen. Und etwas essen. In einem so feinen Lokal war er höchst selten gewesen und wenn, dann nur, um die Toilette zu benutzen.
Er brauchte also Geld. Wie viel, das war ihm auch nicht klar. Am besten ging er morgen früh gleich auf die Müllhalde und half den Leuten, ihren Kram ausladen. Er konnte keinesfalls riskieren, die Rechnung nicht bezahlen zu können.
Plötzlich wurde alles so kompliziert.
***
Emily fragte sich, ob er wohl mit dem Auto käme.
Weil er aber spätabends zu Fuß unterwegs gewesen war, entschied sie, dass er wohl noch keinen Führerschein hatte. Sie konnte natürlich auch zu Fuß zu IHOP gehen, musste dann aber mindestens zwei Stunden vorher aufbrechen.
Da wünschte sie sich plötzlich, sie hätten sich für ihr Treffen einen Ort ausgesucht, der näher lag. Aber was sie sich wirklich wünschte, war etwas anderes, nämlich, dass sie ihre Handynummern und E-Mail-Adressen und überhaupt ihre ganz normalen Adressen ausgetauscht hätten.
Denn so, wie es jetzt stand, konnte sie ihn weder anrufen noch übers Internet mit ihm Kontakt aufnehmen, um vielleicht einen anderen Treffpunkt auszumachen.
Mit dem Rad hinzufahren, wäre noch eine andere Möglichkeit, aber dann hätte sie es dort eben auch dabei. Und ihr fiel nicht ein, wie sie ihm hätte mitteilen können, dass er doch auch mit dem Fahrrad kommen sollte.
Sie hoffte, dass er auch gern mit dem Mountainbike unterwegs war. Damit in die Berge hochzufahren und dann auf dem Rückweg einen der vielen Wege entlang des Bachs wieder herunter, das mochte sie besonders gern. Es war felsig und gab dort jede Menge Kurven und man stand in den Pedalen, tief über den Lenker gebeugt, und umklammerte die Griffe, als hinge das eigene Leben davon ab. Was auch gar nicht so falsch war. Zumindest, wenn man so fuhr, wie sie fuhr.
Sie war sich ziemlich sicher, dass er keiner von den Jungs war, die die ganze Zeit in ihrem Zimmer hockten und Videospiele spielten, denn er sah nach viel frischer Luft aus und die andere Sorte Jungs war immer blass und irgendwie nervös.
Wahrscheinlich machte er viel Sport. Vielleicht spielte er Fußball.
Jetzt war sie auf einmal froh, dass sie immer noch in der Fußballmannschaft an ihrer Schule war, obwohl sie nie für ein Spiel aufgestellt wurde.
Bestimmt war er auch ein Skifahrer. Aber inzwischen fuhr sie lieber Snowboard, deshalb hoffte sie, dass es bei ihm genauso war.
Mit ihren Eltern war sie jeden Winter nur ungefähr ein halbes Dutzend Mal auf der Piste unterwegs, aber sie machte das, seit sie ganz klein war. Deshalb kannte sie natürlich alle Abfahrten. Was sie aber daran wirklich mochte, waren die Fahrten im Sessellift, wenn sie auf die schneebedeckten Bäume hinabsah und sich vorstellte, ein Vogel zu sein, der über die Schneelandschaft flog.
Aber das
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