Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
offen sein, weil sie nichts von der Welt, in der er lebte, wusste.
Sam hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun musste.
Er fühlte sich zutiefst verwirrt und wie er so am Anfang ihrer akkurat gepflasterten Einfahrt stand, da wollte er nichts lieber, als von hier verschwinden. Fliehen. All die Gefühle einfach loswerden.
Stattdessen nahm er ihre Hand und führte sie mit der Innenseite an seinen Mund und küsste sie ganz zart. Er flüsterte: »Ich werde unseren Spaziergang heute Abend nie vergessen.« Dann ließ er ihre Hand los und machte auf dem Absatz kehrt. Sie stand da wie gebannt und sah ihm zu, wie er den Fußweg entlangging, um die Ecke bog und in der Nachtluft verschwand.
***
Sam rief sie nicht an.
Emily hörte überhaupt nichts von ihm.
Weder am nächsten Tag noch am übernächsten, noch am Tag darauf.
Emily wurde auch eines dieser komischen Mädchen. Sah ununterbrochen auf ihrem Handy nach. Neurotisch. Wie besessen. Sie war wütend auf ihn und wütend auf sich selbst. Es fiel ihr schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Was war mit ihr passiert? Warum hatte sie es so erwischt? Und wie konnte sie das abstellen?
Nach den ersten beiden Tagen, in denen sie nichts von ihm gehört hatte, fing sie an, nach ihm zu suchen. Sie ging nach der Schule ins IHOP, setzte sich drinnen ans Fenster und schaute hinaus. Am dritten Nachmittag bot ihr der Geschäftsführer einen Job als Bedienung an. Danach mied sie den Laden.
Emily wusste zwar Sams Nachnamen, aber das brachte sie nicht weiter. Sie hatte keine Ahnung, wo er wohnte. Erzählt hatte er ihr nur, dass er nicht zur Schule ging. Dass er schon oft umgezogen war.
War er vielleicht gar nicht mehr in der Stadt? Aber selbst wenn er nicht mehr da war, wenn es dafür einen wichtigen, triftigen Grund gab, warum hatte er sie dann nicht angerufen und es ihr gesagt? Warum hatte er nicht angerufen, um Auf Wiedersehen zu sagen? Warum rief er nicht an, um irgendetwas zu sagen, egal was?
Das Ausmaß ihrer Enttäuschung bekamen alle zu spüren.
Nora und sie kriegten sich wegen jeder Kleinigkeit in die Haare und redeten nicht mehr miteinander. Ihr Vater, der nicht die geringste Ahnung hatte, was mit ihr los war, machte sich Sorgen, weil er sie zu dem missglückten Soloauftritt in der Kirche gezwungen hatte.
Aber ihre Mutter spürte genau, wenn jemand in Panik war. Und ihre sonst immer so ausgeglichene Tochter war in Panik.
Und dann schreckte Emily eines Nachts aus dem Schlaf hoch und war sich plötzlich sicher, dass Sam verletzt war. Von einem Auto angefahren. Auf dem Heimweg. In der Dunkelheit. Das war Pep Kranitz, ihrem Nachbarn, auf einer Reise durch Nebraska passiert und er wäre fast ums Leben gekommen.
Sie rief in den beiden Krankenhäusern der Stadt an und fragte nach einem Patienten namens Sam Smith. Im Sacred Heart, wo ihre Mutter arbeitete, war er nicht. Aber im Kaiser Hospital. Zimmer 242.
Sie hatte es geahnt.
Emily zog ein Kleid an und kaufte einen Strauß Narzissen. (Machte man das? Brachte man einem Jungen im Krankenhaus Blumen mit? Sie war sich da nicht ganz sicher, aber ihre Mutter wollte sie nicht fragen.) Als sie im Krankenhaus aus dem Aufzug trat, sagte ihr der Mann an der Information, Zimmer 242 sei am Ende des Flurs. Auf dem Schild neben der Tür stand mit dickem schwarzem Filzstift: Smith, Sam.
Eine matronenhafte Krankenschwester kam aus dem Zimmer und Emily stockte der Atem, als sie ihr die Hand auf den Arm legte und flüsterte: »Er ist gerade von uns gegangen.«
Emily betrat das Zimmer, wo im Krankenhausbett ein abgemagerter alter Mann lag, an Schläuche und Überwachungsgeräte angeschlossen. Seine trüben blauen Augen mit den rot geäderten gelben Augäpfeln waren offen und starrten leblos an die Decke.
Eine Frau war mit dem Oberkörper auf das Bett gesunken und umklammerte das Laken. Als sie Emily sah, richtete sie sich auf, schlang die Arme um das Mädchen und schluchzte. Der Blumenstrauß entglitt Emilys Hand und fiel aufs Bett, während sie die Frau ebenfalls umarmte und mit ihr weinte.
Später erfuhr Emily, dass die alte Frau mit Sam Smith neunundfünfzig Jahre verheiratet gewesen war.
Auch das geschah zum ersten Mal in Emilys Leben. Sie sah einen Toten. Einen toten Mann namens Sam Smith.
***
Eine Verbindung zu jemandem aufzubauen, kann beängstigender sein als alles andere auf der Welt.
Das wusste Sam jetzt.
Er hatte schon einen Bogen um zusammengerollte Klapperschlangen machen müssen. Er war von einer Brücke
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