Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
herauszutreiben. Es kam am hellichten Nachmittag, schnell und stark, die Hänge leuchteten grandios unter den Blitzen auf. Danach war Kaufner so gründlich durchnäßt, daß er sich aufmachte und abstieg, den Weg nach Samarkand einzuschlagen. In der kleinen Klamm, die zur Senke führte, dröhnte und gurgelte der Bach, er war auf ein Mehrfaches angeschwollen. Kaufner ließ sich nicht beirren, sein Plan stand fest. Er band sich Shochis Taschentuch ums Knie, begann zu humpeln, verwandelte sich in einen erschöpften Wanderer, der sich mit Müh und Not hierhergeschleppt hatte.
Wenige Schritte nachdem sich die Schlucht zur Senke hin geöffnet, stand ein Galgen. Von der Spitze hing, noch vom Regen durchnäßt, ein schillernd schwarzer Pferdeschweif – war das ein Hinweis? Aufs Gur-Emir, das Grab des Gebieters, wo Kaufner ein ähnliches Feldzeichen gesehen hatte? Vor dem grüngoldenen Hintergrund der usbekischen Ebene hob er sich eindrucksvoll ab, der Galgen, zügig zogen die Schatten neuer Wolken herbei, und der Wind brachte den Berg zum Singen.
Dann schlugen die Hunde an, fielen die Schüsse. Kaufner warf sich auf den Boden, schob sich hinter den nächsten Felsknoten, wartete. Weitere Salven – Gelächter – Palaver, es schien gar nicht um ihn zu gehen. Wie er den Kopf aus der Deckung geschoben hatte, lag etwas abseits der Siedlung ein Esel, darum herum lachend streitende Männer. Wie er herbeigehinkt war, stellte sich heraus, daß es nicht einmal um den toten Esel ging. Sondern um die chinesischen Splitterschutzwesten, deren eine man ihm übergestreift hatte. Bevor man sie dem Händler abkaufte, der nun arg in Bedrängnis geraten, wollte man wissen, ob sie etwas taugten. Sie taugten nichts.
Aber die Westen seien ja nur gegen Splitter, wagte Kaufner zu bedenken zu geben, nicht gegen gezielte Kugeln.
Da erst nahm man von ihm Notiz und spielerisch Haltung an. Die Männer waren jung, erschreckend jung, die meisten im Grunde noch Kinder. Alle bewaffnet und verwegen gekleidet, mit Handgranaten behängt oder Patronengürteln, die sich vor der Brust kreuzten. Eher Gangsta als Krieger. Das übermütige Gekicher ging blitzschnell in Gezänk und erneut in Gekicher über, endlich entschloß man sich zur Gastfreundschaft.
Nachdem Kaufner die Sache mit seinem Knie erklärt hatte, führte man ihn unter großem Krakeel zum Schamanen. Die Hunde sprangen wie toll um sie herum, Kaufner mußte gegen sie in Schutz genommen werden. Zwischen den Baracken Satellitenschüsseln, Wassertanks, Plastiksäcke, aus denen die Milch in Tröge tropfte. Die eine oder andere Frau trat vor die Tür, um nachzusehen, was der Lärm zu bedeuten habe. Sogar auf den Teebetten, die man offensichtlich nach dem Gewitter wieder bezogen hatte, regte sich da und dort jemand. Man grüßte einander mit hochgereckter Waffe, dem Peace-Zeichen und zotigen Zurufen. Vor einem der Container ein älterer Mann (schätzungsweise Mitte zwanzig), der einen bescheidenen Schaschlikgrill aufbaute. Abgesehen davon und den weiß leuchtenden Jurten am andern Ende der Siedlung sah alles wie ein ganz normales Bergdorf aus. Nur eben aufs ärmlichste zusammengewürfelt und vorwiegend von Kindern bewohnt.
Der Schamane hingegen war ein auf Haut und Knochen zusammengeschrumpelter Greis. Er strahlte, als ihm Kaufner zugeführt wurde, und zeigte dabei ein komplett vergoldetes Gebiß, war also steinreich. Neben der Nase saß ihm ein tomatengroßes Furunkel, seine Ohren waren riesig. Er hatte die Ohrläppchen in die Ohrmuscheln hineingestopft, zog sie aber gern heraus, sowie man ihn anstupste. Kaufner sei ein schlechter Betrüger, begrüßte er den Neuankömmling, indem er dessen Rechte mit beiden Händen ergriff und lange schüttelte: Er könne nicht einmal richtig humpeln. Die Jungs kicherten. Versicherten Kaufner dann mit großem Ernst, der Schamane habe neulich einen der ihren gesundgezaubert, indem er den Vers einer Sure auf Papier geschrieben und in ein Glas Wasser geworfen habe. Der Kranke habe das Tintenwasser getrunken und sich geheilt vom Lager erhoben.
Auch den neuen Patienten behandelte der Schamane mit Hingabe, ölte ihm das Knie ein, als ob er den Schwindel niemals durchschaut hätte. Die Jungs sahen zu, weitere Kinder strömten herbei, darunter kleine Mädchen, die noch kleinere Geschwister auf dem Arm trugen. Kaufner dachte zwischenzeitlich, er sei unter die Narren geraten. Und mußte eine halbe Stunde so sitzen bleiben, auf daß das Öl einwirke, ein Gehilfe des Schamanen
Weitere Kostenlose Bücher