Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
vorstellbar, weder das eine noch gar das andere. Dann aber waren ihm die Paßgänger im Prinzip egal? Und er arbeitete mal mit ihnen, mal gegen sie, je nach Laune und Gutdünken?
Er müsse es nicht sofort wissen lassen, beendete der Sultan das Schweigen, sein Sohn solle sich ruhig ein paar Tage Zeit zum Nachdenken gönnen, so lange sei er sein Gast. Er möge sich willkommen fühlen und sicher wie bei sich zu Hause in … in Gamburg? Der Sultan grunzte zufrieden auf. Oh, sicherer als in Gamburg, viel sicherer. Vorausgesetzt natürlich immer, Kaufner halte sich ans Gesetz dieses Bergs: »In Samarkand bist du weder Tadschike noch Usbeke, weder Kirgise noch Türke noch Russe noch sonstwer, auch kein Deutscher, hier bist du nur: einer von uns.«
Am Ende der Audienz beschwerte er sich sogar noch über die Gerüchte, die über ihn kursierten, und bat um Verständnis: »Ich habe keine Hand, die zupacken kann, keinen Fuß, der laufen kann, schau auf meine Schwäche und Hilflosigkeit!« Nichtsdestoweniger habe ihm der erhabene Gott die Menschen unterworfen, auf daß er sie schütze und Gutes für sie tue – Ost und West müßten vor seinem Namen erzittern, damit sein Volk nicht untergehe in den Wirren der Zeit.
Entweder war er verrückt oder erleuchtet. Aus der Nähe sah man an seinen Sohlen die harte graue Haut derer, die viel barfuß laufen (nicht schmutzig, aber erst oberhalb des Knöchels richtig sauber), wie paßte das zusammen?
Er lebe lediglich als Handlanger Gottes, führe aus, was seit je beschlossene Sache. Die ganze Welt sei auf der Flucht, unter seiner sorgenden Hand fände manch einer Bleibe und neue Heimat. Was immer er in die Wege leite, er versuche nur, seinem Volk ein wenig Sicherheit zu schenken, mehr nicht. Wohlgelitten seien er und seine Untertanen hier oben dennoch nicht. Die Tadschiken würden sie am liebsten … Und alle anderen würden es genauso gern. Was Kaufner an seiner Stelle denn getan hätte. Vor wenigen Monaten habe er einen seiner besten Männer verloren, Vierfinger-Shams, erschossen.
Das kann ja gar nicht stimmen! hätte Kaufner am liebsten laut aufgeschrien, schließlich war Shamsi in Samarkand erschossen worden. Oder hatte er selbst dort noch für den Sultan gearbeitet? Kaufner schwirrte der Schädel. Kaum bekam er’s mit, daß ihm draußen sein Gewehr wieder ausgehändigt wurde, er sei ja jetzt einer der ihren. Wie die Hunde alle schwiegen, als er zurück ins Dorf tappte. Aber vielleicht hörte er ihr Gebell nur nicht.
Die Einladung, ein paar Tage zu verweilen (»und das Knie vollends ausheilen zu lassen«), nahm Kaufner an. Eine bessere Gelegenheit, die Kämpfer des Heiligen Kampfes aus nächster Nähe zu studieren (so es welche waren), würde er nicht bekommen. Was er hier beobachtete, konnte »draußen«, wo das Gastrecht nicht mehr galt, überlebenswichtig sein. Es sollte einige Tage dauern, bis er klarer sah. Nicht was den Sultan betraf; die Frage, ob er nun Januzak war oder dessen Zwillingsbruder oder doch nur einer, der gar nicht wußte, daß er einen Doppelgänger hatte, war und war und war nicht zu beantworten. Abgesehen davon, hielt er sich sowieso im Verborgenen, man bekam ihn kein einziges Mal mehr zu Gesicht. Klarer sah Kaufner immerhin, was das »Volk« betraf; unter der schützenden Hand seines Herrn frönte es einem rätselhaft militanten Nichtstun:
Saß man abends am Lagerfeuer, mußte man meinen, man nehme an einem Völkerverständigungsbesäufnis teil, vorwiegend mit Usbeken, aber auch mit Kasachen, Kalmücken, Tataren, jeder Menge Deserteure aus der russischen Armee. Allein die Kirgisen blieben bei ihren Jurten und die Tadschiken sonstwo. Samarkand erschien dann weniger als Flüchtlings- denn als Basislager für Gesetzlose jedweder Provenienz, die es, jeden auf seine Weise, hierher geführt hatte.
Man trank, übergab sich, nickte kurz ein, trank weiter. Selbstverständlich gab es auch ganz normale Flüchtlinge. Aber was war noch »ganz normal«? In den Gebirgen war dieselbe Völkerwanderung im Gange, die weltweit als dieser oder jener Flüchtlingsstrom abgetan wurde. Samarkand war allerdings keines jener Camps, wie man sie von Regierungsseite errichtet hatte. Sondern ein wehrhaftes Camp, eines, in dem sich die Flüchtenden zu einer Art Fremdenlegion formiert hatten, vor der die Einheimischen zitterten.
De facto war der Kampf schon entschieden, selbst in der Kargheit des Turkestanrückens gab es für die Tadschiken nichts mehr zu verteidigen. Spätestens wenn
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