Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
rauften sich die Haare, warfen sich in den Staub, erhoben anhaltendes Wehgeschrei. Auch die Männer schwärzten sich das Gesicht, legten einen Filzumhang über ihr Gewand und stimmten in die Klage ein, am lautesten die Bettler und Derwische, angespornt von Höflingen, die ihnen üppige Bewirtung und Geschenke in Aussicht stellten. Dazu die dröhnenden Schläge einer Kesselpauke, stundenlang, tagelang, bis man am Morgen des vierzigsten Tages ihre Bespannung zerriß, damit sie nie wieder erschallen würde.
Das war der Tag von Naziras Begräbnis. Der Ebenholzsarg wurde in einen Stahlsarg gelegt, darüber kam violetter und schwarzer Damast. Als der Sarg in den Sarkophag hineingestellt und die Marmorplatte darübergelegt wurde, warf Timur seine Kappe zu Boden und bedeckte sein Haupt mit Erde. Er weinte wie eine Frühlingswolke, heftig und kurz.
»Nicht nur die Rose wollte ich dir schenken, sondern den ganzen Garten.«
Er ließ seine Leibstandarte vor dem Mausoleum aufpflanzen.
»Weh über dieses Leben. Am Ende sind die Rosen des Gartens verblüht, es bleiben bloß Dornen.«
Er ordnete an, daß die Wände des Mausoleums mit den persönlichen Kleidungsstücken und Gegenständen der Toten behängt wurden.
»Nun wird als nächstes der Himmel zusammengefaltet, wie der Schreiber einen Brief faltet.«
Nachts, wenn das Mausoleum für die Massen geschlossen war, wachte er oft selbst an Naziras Sarkophag. Wer auch nur am Eingang der Gräberstraße vorbeiging, hatte sich fortan zu verbeugen; wer vorbeiritt, mußte vom Pferd steigen und sich verneigen.
Im Volk kursierten Gerüchte, man höre es Nacht für Nacht in Naziras Mausoleum wimmern und weinen, immer dieselbe weibliche Stimme, manchmal sei ein Schrei zu vernehmen, so markerschütternd wie jener, den man seinerzeit vernommen, als der Sack zur Erde gefahren. Timur war auf Gerüchte nicht angewiesen, er
hörte
den Schrei, mochte er von einem seiner Paläste zum nächsten fliehen oder reglos im
Garten, der das Herz erfreut
verharren, barhäuptig, den schwarzen Filzumhang der Trauer über die Schultern gelegt.
Um die nächtlichen Schreie loszuwerden, kleidete er sich schließlich auf Rat seines Lieblingsderwischs in einen Mantel aus schwarzbraunem Zobel und ging in die Berge. Von Samarkand aus ist es nicht weit ins Gebirg, welche Richtung auch immer man einschlägt. Und es ist nicht weit bis zu der Stelle, die Timur für sich erkor, um zur Ruhe zu kommen. Du hast schon von ihr gehört, Ali, man nennt sie seitdem den
Leeren Berg.
Ganz leer sollte er werden, der Herr der Glückskonjunktion, sein Derwisch hatte es ihm befohlen, und also saß er, der Himmel schickte ihm durch einen Falken täglich Nahrung, saß an der dunkelsten Stelle, die er in seinen Gebirgen hatte finden können. Anfangs dröhnte sein Gelächter zwischen den Wänden, irgendwann wurde er ruhiger. Vielleicht lag es an den Felsen, sie sind dort wirklich sehr schwarz, sind so schwarz wie … wie diese hier, Ali, mein Haus ist daraus erbaut, ich hab’s ja erwähnt.
Es wird dich nicht überraschen, daß Timur im Jahr darauf, Sommer 1397 , dem Traumgesicht seines Derwischs folgte und ein Mausoleum für Nazira am
Leeren Berg
bauen ließ. Solange sie in Samarkand und also in Timurs Nähe lag, würden ihre Schreie nie verstummen. Der Derwisch war ein großer Heiliger, er konnte nackt im Schnee sitzen und ihn zum Schmelzen bringen. Bisweilen ritt er auf einem Schimmel in den Himmel, um sich mit den Engeln zu beraten. Timur hörte bedingungslos auf ihn, im Krieg wie im Frieden, er ließ sich sogar von ihm beschimpfen und ins Gesicht spucken, so verehrte er ihn.
Neben Naziras Mausoleum befahl er sein eigenes zu errichten, daneben weitere für den Derwisch, seine beiden Söhne, die bereits verstorben waren, und für alle weiteren Söhne, die noch zu sterben hatten. So entstand hinterm
Leeren Berg
eine Gräberstraße nach dem Vorbild von Shah-i Sinda. Nachdem die Baumeister sämtlich hingerichtet worden, damit sie nichts verraten konnten, wurde Naziras Sarg diskret dorthin geschafft und ebenjener Derwisch zum Wächter ihres Mausoleums bestellt. Als die nächtlichen Schreie ausblieben, glaubten die Einwohner von Samarkand, Naziras Seele habe sich mit ihrem Schicksal versöhnt. Nur die Noblen des Reiches wußten, was passiert war und wo sie tatsächlich ihre letzte Ruhe gefunden. Die schwarzen Felsen schienen zu wirken.
In aller heimlichen Geschäftigkeit wuchs die Gräberstraße. Bald ersuchten auch entferntere
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