Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
verharrte einige Augenblicke lang mit geschlossenen Augen. Erwog er, seinen Zuhörer mit der Erklärung zu überraschen, daß das erst die tadschikische Variante der Erzählung gewesen? Es war sehr heiß in der Hütte, und sehr spät war es auch. In das Schweigen hinein hörte man das Kuhfladenfeuer prasseln. Und roch es mit einem Mal wieder in seiner schamlosen Zudringlichkeit.
Endlich schlug der Schäfer die Augen auf, blinzelte, als wäre er gerade aus dem Schlaf aufgeschreckt, blickte Kaufner auf seine traurigheitere Weise an. Ein letzter
Kaliber.
Nein, dies sei wirklich das Ende der Geschichte, versicherte er und schob Fladen in den Ofen. Ein allerletzter
Kaliber
, höchste Zeit, schlafen zu gehen.
Schon stand er in der Tür. Klar und kalt schlug von draußen die Nacht herein. Jetzt wußte Kaufner, warum ihm der Schäfer die Geschichte unbedingt hatte erzählen wollen. Gerade deswegen glaubte er ihm kein Wort, keines jedenfalls, das sich auf die Marmorkugel bezog.
»Das ist doch alles bloß ein Märchen!« rief er ihm im letzten Moment hinterher, Nazardod steckte noch einmal kurz den Kopf herein, »deine Geschichte kann gar nicht stimmen!«
»Schau mir in die Augen, Ali. Was siehst du da?«
»Nun fang nicht damit an!«
»Ein Tadschike lügt nicht.«
Nazardod hatte ihn im letzten Moment vom rechten Weg abbringen wollen, keine Frage. Man hörte ihn eine Weile draußen rascheln, vielleicht bereitete er sein Lager direkt vor der Tür, damit ihm der Gast nicht über Nacht entwischen konnte. Drinnen raschelte Kaufner, entdeckte dabei weitere Namen im Gebälk, darunter in kyrillischer Schrift denjenigen des Kirgisen. Kaufner war nicht einmal sonderlich überrascht. Daß Januzak vor ihm hier gewesen, war anzunehmen gewesen. Dennoch hatte er die Marmorkugel allem Anschein nach nicht zerstören wollen, das hätte man selbst in den Schäferhütten auf der anderen Seite der Welt mitbekommen. Vielleicht war er ja doch kein Paßgänger, sondern einer, der auf seine einzelgängerische Weise für die
Faust
arbeitete. Hinters »K« auch noch den Rest seines eigenen Namens zu schnitzen, versagte sich Kaufner. Danach, flüsterte er sich zu, danach.
Bevor er sich schlafen legte, behandelte er seine Wunden mit Spucke und sein verstauchtes Knie mit Schlangenfett, etwas anderes hatte er nicht. Seine blutig unterlaufenen Zehennägel betrachtete er mit Stolz. Kaum war er in den Schlafsack gekrochen, wollten ihm die Augen zufallen. Aber die scharfe Ausdünstung der Filzdecken unter ihm ließ ihn sogleich wieder emporfahren.
Kaufner inhalierte. Kaufner hielt es nicht für möglich. Kaufner stand auf, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, daß unter den bunten Steppdecken, die Nazardods Frau nach dem Essen auf der Lagerstätte ausgebreitet, auch weiterhin nichts als Filzdecken und Schafwollvliese lagen. Darunter die Bretter, von Plastikplanen bedeckt. Weil aber ausgerechnet die Planen so zu stinken schienen, hob er sie da und dort an und entdeckte
darunter
eine durchgehende Schicht an Kuhfladen. Kaufner roch daran, bis ihm das Dach der Hütte auf den Kopf zu drücken schien.
Schließlich rollte er sich in seinem Schlafsack zusammen, um mit möglichst viel davon in Berührung zu kommen. Wie man sich aber auch drehte, es war stets zu wenig. Der Ofen qualmte, immer wieder mußte man sich räuspern, die Nase schnauben, in Shochis halbes Taschentuch hineinhusten. Die Luft heiß und staubig, die Felsbrocken der Wand eiskalt. Dahinter die Herden, wie sie mit vereinten Kräften schwiegen und … endlich knisterte die Nacht über Kaufner zusammen.
Doch nur, um ihn durch dunkle Träume zu hetzen. Es begann mit einer unbewirtschafteten Schäferhütte, in der er sich vor Monaten hatte verbarrikadieren müssen, weil im Lauf der Abenddämmerung zahlreiche Weidetiere dorthin zurückgekehrt waren: brüllende Ochsen, schnaubende Pferde, schreiende Esel, allesamt empört über den Eindringling, ein böser Lärm rund um die Hütte. Ebendas geschah ihm nun erneut im Traum, erst als die Tiere in die Hütte hineindrängten, fuhr er mit einem Schrei heraus. Von der einen Nacht in die andere. Noch wußte er gar nicht so recht, in welcher Hütte er jetzt war, da stand schon Nazardod neben ihm und beruhigte ihn:
»Keine Bange, Ali.« Es liege lediglich an den Felsen, die seien schlimm.
Erneut hörte man ihn draußen eine Weile rascheln, jedes seiner kleinen Geräusche bereits vertraut und tröstlich. Drinnen nichts als die große Ruhe großer
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