Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
manch anderes. Im Grunde hatte’s sich bald als gar nicht so unpraktisch erwiesen, wenn sie plötzlich auftauchte, wo man sie am wenigsten erwartete. Anscheinend spürte sie, wo Kaufner gerade zugange war, auch wenn sie nicht mehr von ihm träumte. Zum Glück, wie sie selber versicherte, der eine Traum sei schrecklich genug gewesen.
Warum er sie immer nach Hause zu schicken versuche? Sie wolle ihn doch bloß beschützen.
»Ausgerechnet du? Ausgerechnet mich?«
»Es ist nicht zum Lachen, Ali, es ist ernst.« Das, was sie geträumt, könne immer noch eintreffen. Da sie die einzige sei, die den Traum kenne, sei sie auch die einzige, die ihn davor beschützen könne. Beschützen müsse. Bislang sei alles eingetroffen, was sie geträumt, deshalb habe man ihr verboten, davon zu erzählen. Schwer sei es, solche Träume zu haben, schwerer noch, darüber nicht zu reden.
Wie er sie freilich aufforderte, wenigstens ihm den Traum zu verraten, stand sie nur und schüttelte den Kopf. Erst als sie sich abdrehte, merkte er, daß ihr die Tränen in die Augen getreten waren.
Einmal war er hart geblieben. Daraufhin war ihm das Mädchen in einigem Abstand durch die Straßen gefolgt, war stehengeblieben, sobald er sich zu einer Pause niedergelassen, und sofort wieder hinter ihm hergewesen, sobald er seinen Weg fortgesetzt. Entsetzlich hartnäckig. Noch anstrengender, als wenn sie neben ihm ging und ihn beplapperte. Schließlich hatte er sie mit einer unwirschen Bewegung herangewunken, sie hatte sofort verstanden.
»Außerdem wird es Zeit, daß Sie Tadschikisch lernen. Und ich Deutsch.«
»Du sollst mich nicht immer siezen.«
Mit jedem konnte man hier bequem Russisch sprechen; auf die Idee, daß es lediglich eine Verkehrssprache war, die aus den Zeiten der U d SSR übriggeblieben, und man also nie wirklich dazugehörte, wenn man sich ihrer bediente, war Kaufner noch gar nicht gekommen. Natürlich würde ihm ein Tadschike auf Tadschikisch etwas anderes erzählen denn auf Russisch, wohl auch als ein Usbeke auf Usbekisch, da hatte Shochi recht. Seitdem begleitete sie ihn mit Selbstverständlichkeit, sobald sie von der Schule heimgekommen und dann von zu Hause ausgerissen war. Als sei sie eines der zahlreich herumstreunenden Kinder, die sich den Fremden als Stadtführer andienten. Bald bemerkte Kaufner, welch unerschöpflichen Vorrat an Charaktereigenschaften sie in sich trug, die ihre dunkle Seite – die Bürde des zweiten Gesichts, die sie vor einigen Jahren in Form schwerer dunkler Träume befallen und seitdem nicht mehr freigegeben hatte – aufs vorwitzigste konterkarierten. Nicht ganz ohne Widerwillen begann er, sie zu mögen, vielleicht der kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen wegen, die sie in Verbindung mit ihren strahlend blauen Augen und dem dicken schwarzen Zopf genau so aussehen ließ, wie ein junges Mädchen seiner Meinung nach aussehen sollte. Vielleicht auch wegen … Darüber darfst du nicht nachdenken, ermahnte sich Kaufner, das mußt du vergessen. Du solltest es schon längst vergessen haben.
»Hast du denn nichts Besseres zu tun?« begann er zu seiner Verwunderung, sich zu freuen, sobald er Shochi im Gewühl der Gassen plötzlich entdeckte: »Solltest du nicht mal deine Freundinnen treffen?«
»Welche Freundinnen?«
In Shochis Stimme klang kein bißchen Trauer mit, sie hatte sich damit abgefunden, von allen gemieden zu werden. Eine einzige Freundin war ihr bis letztes Jahr geblieben. Als Shochi allerdings von deren Bruder geträumt hatte … Sie schnappte ein paarmal nach Luft, ehe sie es halbwegs herausbrachte:
»Weißt du, Ali, auch mir machen solche Träume Angst! Ich wär’ so froh, wenn ich sie nicht hätte! Aber ich hab’ nun mal geträumt, daß ihr Bruder – also, daß er aus dem Gebirge zurückkommt.«
Weil er wenige Tage später tatsächlich von einer Abordnung seiner Einheit nach Hause eskortiert worden, freilich im Sarg, war Shochis letzter Freundin verboten worden, sich mit ihr zu treffen. Wahrscheinlich hatte man es ihr gar nicht verbieten müssen.
Bis zur Regelmäßigkeit gemeinsamer Unternehmungen war’s nicht mehr lange hin. An den Vormittagen hingegen blieb Kaufner mit sich selbst und dem Weltkulturerbe beschäftigt – jedenfalls soweit es Nekropolen, Mausoleen, Friedhöfe waren – und mit den Möglichkeiten, die es bot, Timurs sterbliche Überreste zu verstecken. Direkt in einer der Samarkaner Sehenswürdigkeiten darauf zu stoßen, erwartete Kaufner natürlich nicht. Aber wo,
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