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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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wenn nicht dort, hätte er mit seiner Suche nach einer allerersten Spur ansetzen sollen? Von seinen Auftraggebern wußte er, daß auch heutzutage noch ein beträchtlicher Kult um Timurs Gebeine betrieben wurde, bloß eben an geheimgehaltenem Ort. Es hatte ein wenig verrückt geklungen, was sein Führungsoffizier von der Verehrung zu berichten gewußt, die Timur unter den Soldaten des Kalifen genoß, als ob Sieg oder Niederlage von einem Haufen Knochen abhängen konnten. Aber gut, Kaufner mußte ja nicht selber daran glauben, mußte nur seinen Auftrag erfüllen, in der Hoffnung darauf, den Glauben der Gegenseite dadurch zu erschüttern. Den Glauben an ihre Unbesiegbarkeit, solange die Seele des Kriegers mit ihnen kämpfte. Und schließlich, was war nicht verrückt in diesem Krieg?
    Es war auf dem großen Ruinenhügel am nordöstlichen Stadtrand, als Kaufner ins Stocken und Grübeln geriet. Zuvor hatte er das Danielgrab besucht, einen rund zwanzig Meter langen Sarkophag für das Bein des Propheten, der Legende nach wuchs es alle hundert Jahre ein Stück. Timur hatte es auf einem seiner Kriegszüge durch den Iran geraubt, nur deshalb war Kaufner überhaupt hingegangen.
    Nichtsdestoweniger umsonst.
    Von diesem Ende des Hügels hatte er sich wieder stadteinwärts gehalten, durch die Ruinen der alten Stadt und im Gras verstreut aufgeworfene Erdhaufen, beständig von einem süßlichen Fäkalien- und Verwesungsgeruch umgeben. Bis er schließlich die ersten Gräber passierte, nach wie vor auf der Kuppe des Hügels, bis er wenig später mitten auf dem Friedhof stand, der sich linker Hand bis zur Gräberstraße Shah-i Sinda hinabzog. Vor ihm die häßliche Skyline von Samarkand, aus der die Bauwerke der Timuriden riesenhaft herausragten. Am Horizont die langgezogene Felswand der Serafschanberge mit ihren schneebedeckten Spitzen.
    Es war die Stunde des Mittagsgebets, überraschend heiß schon für April, Kaufner setzte sich in den Schatten eines Grabsteins, lehnte sich ans lebensgroß eingelaserte Brustbild des Verstorbenen, gab sich seiner Ratlosigkeit hin. Die einstige Hauptstadt eines Weltreichs, das von Kleinasien bis China reichte – was war sie heute anderes als eine durch und durch banale Kleinstadt? Wo hätte man hier noch einen Ort außerhalb des Gur-Emir finden können, der eines Timurs würdig, des größten Feldherrn aller heiligen und unheiligen Kriege, des gewaltigen Handlangers Gottes, vor dem die Welt gezittert?
    Wie weit Kaufner an jenem Mittag von jeder Spur entfernt war! Und wie nah er ihr bereits im Verlauf des Nachmittags kommen sollte! Unschlüssig schlenderte er in die älteren Teile des Friedhofs, wo sich die Grabstellen eng an eng und völlig ungeordnet den Hang hinabzogen, jede davon umgittert, kniehoch dazwischen Gras und wildes Korn, manchmal raschelte ein Tier darin. So kam er bergab und am Ende ganz zwangsläufig zur Shah-i Sinda, der Totenstraße. Nämlich zu deren Hintereingang, wo sich gerade lautstark ein Gerangel ereignete: Zwei Polizisten versuchten, einen Bauern festzunehmen und dabei eine Teppichrolle zu beschlagnahmen; der Bauer riß sich jedoch immer wieder frei oder wurde von Umstehenden befreit und zerrte dann auch gleich am Teppich. Eine Weile ging es hin und her, bis der Bauer unter wütendem Protest abgeführt werden konnte. Als sich die Menge, das Geschrei des Verhafteten aufgreifend, in der Totenstraße zusammenrottete, entdeckte Kaufner zwischen denen, die sich abseits hielten, ein kleines Wesen. Einen Augenblick später drängte es sich neben ihn und, Kaufner mußte gar nicht erst lang fragen, gab aufgeregt Erklärungen:
    Der arme Bauer! Er habe nichts weiter getan, als einen Teppich übers Grab von Mohammeds Vetter zu legen.
    Kaufner kannte das Heiligengrab; obwohl sein Eingang am unscheinbarsten von allen in Shah-i Sinda aussah, war es den Muslimen mit Abstand das wichtigste. Gleich hier gegenüber lag es, am hinteren Ende der Totenstraße, ein Wallfahrtsort seit tausend Jahren. Shochi schubste Kaufner sanft in die Seite, als ob sie ihn zum Gehen bewegen wollte:
    Der Heilige sei natürlich gar nicht drin in seinem Grab. Seitdem ihn die Ungläubigen geköpft, lebe er im Inneren des Berges weiter und helfe den Menschen, die zu ihm kämen. Der arme Bauer! Er habe sich bloß beim Heiligen bedanken wollen, weil der seine Frau von einer schlimmen Krankheit geheilt.
    »Und das ist verboten?«
    »Anderes auch, Ali, anderes auch. Doch das erzähl’ ich dir lieber später.« Shochi

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