Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Schlaf, einen Sommer lang hatte er sie gehört, morgen würde es damit ein Ende haben.
Je mehr Kaufner über die vergangenen eineinhalb Jahre nachdachte, die er nun in seinem Einsatzgebiet agierte, desto sicherer wurde er sich: Der einzige, der ganz bewußt gegen ihn gearbeitet hatte, war tatsächlich Odina. Sher war in dieser Hinsicht – hoffentlich stimmten Morgenthalers Informationen – ja außen vor. Im übrigen hatte die Freie Feste Kaufners Zimmer für unbestimmte Zeit angemietet, insofern lebte er nicht schlecht von Kaufner, einfach dadurch, daß er ihn beherbergte, ohne sich weiter um ihn kümmern zu müssen. Die einzige, die sich kümmerte, war Shochi. Sie hatte Kaufner sogar geholfen, hatte ihm das Leben gerettet, wenn er sich die nächtliche Szene vor dem
Randevu
in letzter Konsequenz klarmachte. Odina hingegen … schon im Hamam hatte er diesen Blick gehabt, diesen braunäugigen Odina-Blick, auf den Kaufner prompt hereingefallen war.
Einen Tag nach Shochis vierzehntem Geburtstag war Männertag gewesen. Weil ständig Gas oder Strom ausfiel und man dann im großen Hauptraum mit den anderen Familienmitgliedern rund um den Kachelofen zusammenrücken mußte, war das Hamam stets eine gute Möglichkeit, dem zwangsweisen Zusammenleben zu entfliehen und sich dabei tüchtig aufzuwärmen. Kaufner war den Winter über Stammgast, wiewohl er eine halbe Stunde hin- und wieder zurücklaufen mußte, da Marschrutkas von einem Tag zum anderen im Stadtgebiet verboten worden waren.
Wie unverhohlen er von Odina gemustert worden, als der dort zum ersten und letzten Mal aufgetaucht; wahrscheinlich war er vorab informiert und auf Kaufner angesetzt worden. Dieser hatte längst vergessen, daß er sich auch hier nach jemand erkundigt hatte, der ihn durch die Berge führen könne, vor allem bei Talib, der ihm, wie immer, ein Kästchen für seine Kleidung aufgesperrt und so lange gewartet hatte, bis er mit ihm treppab unter die Schwitzkuppeln gehen konnte.
Nun also, einen Monat später, Kaufner hatte seine Suche eigentlich schon aufgegeben, die überraschende Antwort auf seine Frage – ein brauner Junge, breitfüßig, breitbeinig, breitschultrig, der sich ausgiebig einseifte, um Kaufner beim Duschen zuzusehen oder Kaufner die Gelegenheit zu geben, ihm dabei zuzusehen. Anstatt sich abzutrocknen, hatte er sich lediglich in sein Handtuch gehüllt und abgewartet, vielleicht war er’s gewohnt, daß man ihn ansprach? Kurz drauf hatte sich Talib eingeschaltet und die Sache in die Hand genommen; Odina war einfach weiterhin dagesessen und hatte doppelt so breite Hände, doppelt so breite Finger, doppelt so breite Fingernägel wie Kaufner gehabt.
Und mit welch tiefer Stimme er dann gesprochen hatte, welch selbstsichere Gesten er dabei gemacht, wie sehr er in sich geruht hatte, damals bereits, in der Nische, beim Tee, als er Talib die Hauptarbeit und nebenbei ein paar anzügliche Witze hatte machen lassen. Gewiß noch ein Junge und doch schon ein Mann.
Nein, Kaufner sei nicht der erste, den er durchs Gebirge führe, dorthin ziehe es andere auch.
Warum nur hatte ihn das wenige, das Odina damals sagte, nicht auf der Stelle mißtrauisch gemacht?
»Wieso sollte ich ausgerechnet mit dir gehen?« hatte ihn Kaufner stattdessen gefragt.
»Die Herren der Berge, das sind von alters her wir, das Gebirge ist unser Haus. Wenn wir für einen Fremden gehen, wird er unser Gast. Stößt ihm was zu, haben wir die Regeln der Gastfreundschaft gebrochen, es muß uns das Gleiche treffen, um es zu sühnen – so will es unser Stolz. Und das Gesetz der Berge.«
Hatte Odina das wirklich gesagt? Vielleicht später irgendwann. Wahrscheinlich nie, so viel auf einmal hätte er kaum je über die Lippen gebracht. Immer wieder kehrte Kaufner zu dieser Szene zurück; je klarer er sich daran zu erinnern suchte, desto verworrener nur wollte es gelingen. Immerhin wurde ihm bewußt, er mußte im Verlauf ihrer gemeinsamen Wanderungen schon so oft darüber sinniert haben, wie er ausgerechnet an Odina als seinen Führer geraten und warum, daß er nun hundert verschiedene Antworten hatte, hundert verschiedene Erinnerungsbruchstücke, von denen mindestens neunundneunzig auf schierer Phantasie beruhten. Welche davon war die Antwort, die Odina
tatsächlich
auf Kaufners Frage gegeben hatte? Als Talib kurz treppauf und davon geeilt, um ein paar Flaschen Joghurt für seine Gäste zu holen, hatte sich Odina nicht da erst und gleich auf unangenehm vertrauliche Weise zu Kaufner
Weitere Kostenlose Bücher