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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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das Licht aus dem Haar und eilte zur Mittagstafel. Auch Kaufner war geladen, der nächtliche Vorfall bedurfte der Aussprache. Mit den Nachbarn hatte sich Sher bereits verständigt; Touristen waren in den Wintermonaten zum Glück keine im Haus. Kaufner mußte versprechen, die einschlägigen Samarkander Etablissements fortan zu meiden. Sher spottete, andernfalls müsse ihn seine Tochter demnächst aus der
Paradiesischen Ecke
herausholen, und das wolle er ihr denn doch ersparen. Obwohl sie durch und durch mißraten sei, keine Frage, er bedaure seinen Schwiegersohn schon heute.
    Für seinen Sohn hatte er kaum weniger Bedauern übrig, mochte der auch neuerdings mit derselben Frisur wie Dilshod zu beeindrucken suchen: beide Schädelseiten komplett rasiert, dazwischen streichholzlang eine Handbreit Normalität bis in den Nacken. Nun, da der nächtliche Zwischenfall ausreichend besprochen, fing er wieder mit den neuesten Kriegserfolgen der Russen an, Sher verdrehte dazu die Augen. Weil ihm keiner beipflichten wollte, verhöhnte Jonibek auch gleich noch den Westen, insbesondere die Deutschen. So weit sei’s mit ihnen schon gekommen, daß sie sich von Türken verteidigen lassen müßten; ob es keine Männer mehr in Deutschland gebe, richtige Männer?
    Sher strahlte, als er seinen mißratenen Sohn von richtigen Männern reden hörte. Mit gespielter Empörung verwies er ihn seiner vorlauten Worte, entschuldigte sich bei Kaufner. Darüber, daß er womöglich ein »reicher arischer Scheißkerl« sein könnte, wurde nicht geredet. Und nur ganz beiläufig darüber, daß das Hoftor künftig mit Einbruch der Nacht abzuschließen sei.
    Nach Tisch war Kaufner ins Grübeln geraten. So unrecht hatte Jonibek ja leider nicht. Im Grunde war die Lage verzweifelt, nicht bloß für Deutschland, sondern für alles, was einmal die Idee der Europäischen Union ausgemacht hatte, zumindest deren Kernbestand im Herzen Europas. Es würde nicht lange dauern und Rußland würde ebenfalls reguläre Truppen schicken, in den Osten Deutschlands, bis an die Alster. Unlängst hatte ihn Sher aufgeregt in sein Büro hereingewunken: »Nachrichten von zu Hause, Ali, schnell!« Auf dem größten seiner Fernsehbildschirme lief
Gazprom TV
, man sah das Brandenburger Tor, unverkennbar, obwohl von der Quadriga nicht mehr viel übrig geblieben war. Anstelle des Triumphgespanns standen ein paar Soldaten dort oben; man sah sie tanzen und dabei eine riesige russische Fahne schwenken. Schließlich machte die Kamera einen Schwenk Richtung Siegessäule, auf eine Betonmauer, die quer über ein Ödland lief, das vielleicht früher der Tiergarten gewesen, laut Kommentator umschloß sie den Westteil Berlins mittlerweile komplett. Der letzte Versuch, so der Kommentator leicht süffisant, dem bevorstehenden Ansturm aus dem Osten etwas entgegenzusetzen.
    Ob das die Berliner Mauer sei, fragte Sher, von der ihm sein Vater erzählt habe?
    Immer wenn Kaufner da oder dort ein paar Fernsehbilder von den europäischen Kriegsschauplätzen mitbekam oder wenn ihm das Neueste erzählt wurde, was als Gerücht darüber kursierte, versuchte er, ganz ruhig und unbeteiligt zu wirken. Als hätte er sich längst abgefunden mit der heraufziehenden Niederlage, an der hier keiner auch nur den leisesten Zweifel zuließ. So beunruhigend die Bilder waren, beunruhigender war es, daß man so gut wie gar nichts mehr von der Front gegen den Kalifen erfuhr, dessen Truppen immerhin schon am Rhein standen. Nichts als die Namen der gefallenen Städte wurden in den Nachrichten kurz genannt, Krefeld, Koblenz, Kaiserslautern, aber welche Schlacht zuvor verloren und wer überhaupt noch ins Feld gegen die
Faust Gottes
gezogen war, ja, ob überhaupt eine Schlacht geschlagen oder lediglich geflohen wurde, das interessierte anscheinend nicht weiter oder wurde zensiert oder –?
    Vor einem Jahr, da sein Führungsoffizier von der Gefahr gesprochen, die vom Kalifen ausging, war es Kaufner geradezu versponnen vorgekommen, weltfern, blind; kaum einer in Deutschland hatte mit einem solch erfolgreichen Vorstoß gerechnet, hatte überhaupt irgendetwas anderes als die Russen im Blick gehabt. Sie waren ja bereits im Lande, man befand sich mitten in einem Bürgerkrieg.
    Und dennoch, jetzt sah man es deutlicher, wiewohl es dazu keine Fernsehbilder mehr gab, dennoch war der Kalif die weit größere Gefahr für den Westen, als dessen letzte mitteleuropäische Repräsentanten sich die Freien Festen etwas größenwahnsinnig verstanden

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