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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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– gemeinsam mit dem Freistaat, mit Böhmen, Österreich-Ungarn, den oberitalienischen Stadtstaaten und all den anderen Duodezrepubliken, die zum Zeitpunkt von Kaufners Abreise, April ’ 27 , noch übriggeblieben. Die Russen würden sich früher oder später in der Alaskafrage engagieren, auch in Zentralasien, wo die neuen Weltmächte ja unmittelbar aufeinandertrafen. Wer weiß, wie lange China noch abwarten und zusehen würde, daß sich die Kräfteverhältnisse dort ebenfalls verschoben; beim Einmarsch der Russen in Kirgistan hatten sie nur eine Protestnote verlesen.
    So Morgenthaler, der Führungsoffizier, schon in seiner damaligen Einschätzung der Lage. Während er redete, war für Kaufner alles in diesem Krieg einfach und verständlich. Es sei lediglich eine Frage der Zeit, hatte Morgenthaler damals prognostiziert, die Russen würden ganz von alleine aus Deutschland abziehen, abziehen müssen. Aber der Kalif! »Er, nicht Rußland, ist unser Untergang. Nämlich schon übermorgen, wenn Sie verstehen, Kaufner.«
    Sobald er wieder auf der anderen Seite der Alster und mit sich allein war, hatte Kaufner nicht mehr so ganz verstanden, damals. Trotzdem hatte er den Auftrag angenommen. Ein Dreivierteljahr später verstand er, ja, glaubte Morgenthaler sogar, übertraf ihn womöglich in seiner Gewißheit, Wohl und Wehe des Westens hingen einzig davon ab, ob es gelang, das geheime Kraftzentrum der
Faust Gottes
auszuschalten. Ob es
ihm
gelang, Kaufner gelang, so schnell wie möglich gelang. Weil er niemand mehr hatte, der zu Hause auf ihn wartete, wenn er im Auftrag der Freien Feste zwischen dem Ost- und dem Westteil Hamburgs unterwegs war, wartete jetzt die ganze Welt auf ihn. Zumindest der Teil der Welt, der sich von ihm die Rettung erhoffte – so durfte man es, so mußte man es doch formulieren, nicht wahr? Nun saß er freilich einen ganzen Winter lang fest, mit Blick auf die verschneite Serafschankette am Horizont, auf einen großartigen Zufall hoffend, eine zündende Idee, ein Wunder. Zum ersten Mal, seitdem er sich mit Kathrins und Lorettas Verschwinden hatte abfinden müssen, spürte er sein Herz wieder klopfen. Er hatte nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen.
    Ruhig, Kaufner, ruhig. Solange im Gebirge Schnee liegt, kannst du allenfalls auf Vorrat schlafen und Kräfte sammeln. Immerhin hatte auch Europa in diesem Winter Pause, der Hauptkriegsschauplatz verlagerte sich vor Jahresende nach Alaska, ohne daß dort nennenswerte Schlachten geschlagen wurden. Überhaupt war der Kriegsverlauf immer wieder rätselhaft. Zwar verschoben sich die Frontlinien laufend, doch entscheidende Siege oder Niederlagen, die früher dafür verantwortlich gewesen wären, wurden keine gemeldet. Klassische Truppenaufmärsche schienen gar nicht stattzufinden, die wirklich entscheidenden Waffen wurden in den Depots gehalten, weil jede der kriegführenden Parteien über sie verfügte. Man verstand nicht, warum der eine ständig weiter vorrückte und der andere ebenso ständig an Terrain verlor. Aber man spürte es, die Panslawische Allianz strotzte vor Kraft, der Kalif nicht minder, von Bagdad aus dirigierte er seine Truppen durch halb Europa, und bislang war er dabei auf keinen gestoßen, der ihn nennenswert hätte aufhalten können.
    Die Hoffnungen des Westens auf einen Kriegseintritt der USA zerschlugen sich in diesem Winter endgültig. Der US -Präsident verkündete in einer Rede, deren entscheidende Auszüge bei Lutfi wieder und wieder zu verfolgen waren, daß sich »ganz Amerika« nach dem »großen Engagement für die Freiheit im Iran« (er meinte die verheerende Niederlage des Westens) als »Bastion des Friedens« verstehe, diese beinhalte selbstverständlich auch den karibischen Raum. Auch? Oder vielmehr nur noch? In Wirklichkeit, so einer der Gäste in der Talkshow der Präsidententochter, Freitag abend, beste Sendezeit, in Wirklichkeit hätten die chinesischen und arabischen Gläubigerbanken des US -Haushalts eine Aufstockung des Verteidigungsetats blockiert, die amerikanische Interessensphäre sei aus Geldmangel auf die Karibik zusammengeschnurrt.
    Bloß nicht weiter drüber nachdenken, du kannst es nicht ändern. Kaufner lag in seinem Schlafsack und lauschte in die Nacht hinaus. Der Kälte nach zu urteilen, die in sein Zelt einsickerte, war es kurz vor Morgengrauen. Man hörte Odina, wie er sich am Lagerfeuer zu schaffen machte, es klang so, als ob er gerade einen dicken Ast nachschob. Kaufner kannte die Geräusche im

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