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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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herübergebeugt, damit man ihm in die Augen blicken mußte, hatte er nicht da erst geantwortet:
    »Weil ich Ihr Bruder bin.«
    Das hatte er, Kaufner war sich plötzlich ganz sicher. Und er hatte damit gewiß gemeint: Weil ich kein Usbeke bin. Sondern Tadschike. Also Arier, das sehe man doch hoffentlich.
    »Weil ich Ihr Bruder bin.«
    Kaufner hatte über die Befremdlichkeit der Begründung damals nicht nachgedacht. Eine bessere Lebensversicherung konnte es fürs Gebirge aber wohl nicht geben. Womit der Handel geschlossen war.
    Einzig Sher hatte Kaufner ins Gewissen zu reden versucht, als der ihn Wochen später, im Januar oder Februar, von seinen Plänen informierte:
    Mit einem aus dem Pamir gehe man nicht in die Berge! So einer sei hier gar nicht zu Hause, der wolle nur Geld verdienen, danach verschwinde er wieder. »Was mit uns passiert, ist ihm egal.«
    Und einen Wodka später:
    »Wenn du Geld hast, kannst du in Samarkand alles machen, Ali. Alles. Du kannst ihn kaufen, jeder kann ihn kaufen, auch die Geheimpolizei kann ihn kaufen – er arbeitet für den, der ihn bezahlt.«
    Nun gut, hatte Kaufner damals gedacht,
ich
werde’s ja sein, der ihn bezahlt. Und Talib obendrein. Obwohl der Usbeke ist. Dieses Obwohl dachte Kaufner damals das erste Mal, und er dachte dabei nicht einmal sonderlich nach, dachte es bloß so obenhin, weil es ihm Odina ins Ohr geflüstert hatte.

    Wieder war es April gewesen, doch ein Jahr später, und Urgut lag zwar nur vierzig Kilometer von Samarkand entfernt, aber etwas höher gelegen, die Maulbeerbäume standen noch in voller Blüte, als sie sich dort am verabredeten Eingang zum Bazar trafen. Sie schüttelten einander die Hände, anschließend legte Odina die Rechte kurz auf sein Herz. Kaufner tat’s ihm nach.
    Nachdem sie die letzten Besorgungen getätigt hatten, ging es zunächst zum Mausoleum am Stadtrand. Ein berühmter Wallfahrtsort, ebenso überlaufen wie der Bazar, welch ein Gedränge und Geschiebe, welch ein Palavern und Lagern und Grillen! Das Gegenteil dessen, was Kaufner suchte.
    Die zweitgrößte Überraschung dieses Sommers gab es gleich kurz nach dem Aufbruch: Odina stieg von Urgut aus in die Serafschankette auf, anfangs waren die Straßen überflutet von einem wuchtigen Platzregen, später ging’s auf einem Feldweg an einer Hagebuttenhecke entlang, an Obstplantagen, Weinfeldern, Müll. Schließlich ein letztes Dorf, sattgrüne Wiesen, ein lauter Bergbach, Gezwitscher, kräuterwürziger Duft. Mit jedem Schritt, den sie an Höhe gewannen, wurde das Gezeter der Ziegen dünner, das Geblök der Schafe gedämpfter. Als hinter der ersten Kuppe die ganz großen Gipfel machtvoll ins Bild rückten, hielt der Junge nicht etwa nach West, sondern auf einem Saumpfad nach Ost. Vereinzelt kamen ihnen Reiter entgegen, deren Pferde vor Odinas Esel scheuten. Dann nur noch grün gefaltete bucklige Welt, dahinter steil schimmernde Schneefelder im Spätnachmittagslicht, gekrönt von der scharf gezackten Kammlinie der Felsgrate. Genau darauf hielt Odina weiterhin zu, nach Ost.
    Hinüber nach Tadschikistan.
    Die Suche auf die Berge jenseits der Grenze auszudehnen wäre Kaufner im Traum nicht eingefallen; als er Odina vorsichtig darauf hinwies, daß er gar kein Visum für Tadschikistan hatte, zuckte der mit den Achseln:
    Grenzen seien für diejenigen gemacht, die in Tälern lebten und nur in Tälern denken könnten.
    Vom Serafschanrücken ging es ins Fangebirge, vom Fangebirge ins Hissormassiv, und irgendwo zwischen all den grau ragenden Vier- und Fünftausendern war es, da Kaufner zum ersten Mal in seinem Leben Respekt vor den Bergen bekam. Sein Martyrium begann jedoch schon am zweiten Tag ihrer Wanderung, da wäre er morgens am liebsten liegengeblieben. Der Schmerz saß ihm am Schienbein, dort, wo der Schaft des Schuhs endete, saß ihm am Hacken, in der Sohle, den Sehnen, selbst in den Schultern, obwohl den Großteil des Gepäcks der Esel trug, Kaufner war dermaßen erschöpft, daß ihm bei jedem Abstieg die Oberschenkel zitterten.
    Gegen Abend spürte er, es waren nicht mehr nur die Muskeln, die ihm zu versagen drohten. Seine Unterschenkel schienen lose in den Kniegelenken zu hängen. In einem Geröllfeld rutschte er ab, weil sein Bein das Gewicht nicht mehr halten konnte, er erzeugte im Rutschen eine kleine Steinlawine, die ihn allerdings nach zwei, drei Metern hinter sich ließ. Er blieb sitzen, lauschte dem Klackern und Bersten der Felsbrocken in der Tiefe, begriff erst beim Echo, daß er seit

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