Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Gummigeschossen außer Gefecht gesetzt worden.
Drei Tote (offiziell), zahlreiche Verwundete. Nach Ablauf der Trauerfeierlichkeiten zog Vierfinger-Shamsis Familie überstürzt aus, fort aufs Land, wie es hieß. Fortan gab es keine Kuh mehr, die morgens muhte, keine Tauben, die abends um die Kuppel von Gur-Emir flogen.
Schon am 12 . Februar wurde sein Haus von einer neuen Familie bezogen, natürlich Tadschiken aus einem usbekischen Vorort. Erstaunlich schnell, verdächtig schnell, bloß keine Nachfragen. Bis zum Massaker von Köln, das die Welt wieder nach Europa schauen ließ, waren es nur mehr Stunden.
Den ganzen Winter über fühlte sich Kaufner in der Stadt wie ein Gefangener. Es zog ihn hinaus, in den Turkestanrücken. Was er tausendmal durchdacht hatte, wollte als Operation 911 endlich ausgeführt werden. Aber es ging nicht, die Berge waren an den Nordhängen noch bis in tiefere Lagen hinab verschneit, an den Südhängen würde das Schmelzwasser in den Rinnen und Schluchten, die er zu gehen hatte, den Aufstieg unmöglich machen.
Wenigstens wurde es in diesem Frühjahr auch in Samarkand spannend. Die Regierung erwartete irgendeinen Staatsbesuch, über den in der Bevölkerung heftig spekuliert wurde, erhoffte man sich davon doch einen Hinweis, ob Usbekistan in der Allianz mit dem Westen bleiben würde oder nicht. Wer immer kommen würde, der Ausflug von Taschkent hierher war obligatorisch, Samarkand rüstete sich mit Macht für das bevorstehende Großereignis.
Wege wurden neu gepflastert, Straßen neu geteert, ganze Geschäftszeilen abgerissen und durch Häuserfassaden aus einem Guß ersetzt – aus dem ganzen Land waren Bauarbeiter und Handwerker zusammengezogen worden, Kompanien an Soldaten halfen rund um die Uhr. Parallel zu den laufenden Bauarbeiten wurden die Stämme der Bäume frisch geweißelt, die Baumkronen gestutzt und mit Feuerwehrspritzen gereinigt, Rabatten beharkt und gewässert, längs der Taschkentstraße wurde beidseitig Rollrasen ausgelegt und von Hunderten Schülern festgetreten. Bänke und Straßenlampen bekamen einen neuen Anstrich, sogar die Kachelfassaden der Sehenswürdigkeiten wurden ausgebessert, neu verputzt, feucht abgewischt. Drei Männer wuschen die Timurstatue am Universitet Boulevard mit Seifenlauge. Überall Polizisten mit Trillerpfeifen. Hätte man nicht mit gleichem Elan die MG -Stände an den Kreuzungen ausgebaut, die Stellungen für Scharfschützen auf den Dächern von Moscheen und Medressen, die Eingangsbefestigungen der Stadtviertel, die Betonmauern längs der Durchgangsstraßen, man hätte das Ganze für einen großangelegten Frühjahrsputz halten dürfen.
Selbst Sher hatte sich anstecken lassen und endlich die Deckenbauer einbestellt, um neue Balken im Osttrakt des
Atlas Guesthouse
einziehen zu lassen. Bereits bei Kaufners Ankunft hatte er davon geredet. Sandelholz! Endlich war es soweit, er sog die Luft demonstrativ ein: »Riech mal richtig hin, Ali!« Einatmen würde zukünftig Luxus sein, Wohnen im
Atlas
ein Wellnessurlaub. Daß kein einziger Tourist mehr kommen würde, wagte Kaufner nicht einzuwenden. Vielleicht hing es wirklich davon ab, wem der Präsident demnächst die Stadt, herausgeputzt zur »Perle der Seidenstraße«, zeigen würde.
Wirklich Bundeskanzler Yalçin? Lutfi schabte Kaufner mit Hingabe den Nacken aus und lächelte, es war nur ein Scherz gewesen. Deutschland war hier allenfalls noch ein Synomym für Westfront; es hätte schon Ping Shengli sein müssen, der US -Präsident, wenn der Westen weiterhin das Bündnis mit Usbekistan aufrechterhalten wollte. Aber wer glaubte noch an den Westen? Nachdem es im Zuge einer Requirierungstour durch Shar-i Sabs zu einer Koranschändung durch NATO -Soldaten gekommen war – auf dem Amateurvideo war zwar nichts zu erkennen, Lutfi versicherte jedoch, daß keiner auch nur den leisesten Zweifel an seiner Beweiskraft hege –, hatte die
Faust Gottes
deren Stützpunkt angegriffen, ohne daß Regierungstruppen eingeschritten wären. Ein Hinweis? Ein Hinweis!
In dieser Lage wurde alles für möglich gehalten. Die Russen in Samarkand hofften auf einen Besuch des russischen Präsidenten, die Nationalisten, zähneknirschend, auf das türkische Staatsoberhaupt, die Hazardeure auf eine Delegation aus China. Nicht wenige in der Stadt, die inzwischen mit Fleiß die vorgeschriebenen Riten vollzogen – am Freitag öffentlich, ansonsten traf man sich zum Beten heimlich in Wohnhäusern –, sehnten sich nach dem Kalifen. Allesamt
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