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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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daß Shochi von ihrem Fieber genesen war, wurde eine stadtbekannte Heilerin ins Haus bestellt, die beim Anblick ihrer kleinen Patientin gleich die stärksten Zaubertechniken anzuwenden versprach.
    Die Behandlung fand im Haupt- und Prachtraum des
Atlas
statt. Da die Sonne mittags schon Kraft hatte, leuchteten die Farben an den geschnitzten Deckenbalken wieder, die Alabasterverzierungen der Wände, das Handy-Muster des Teppichs. Im Kronleuchter war die Hälfte der Glühkerzen bereits ausgeschraubt, um Strom zu sparen. Maysara ließ die Heilerin seit Jahren kommen, um ihr »gefallenes Herz« (Kummer, Streß) zu behandeln, die Heilerin »hob« das Herz, indem sie mit Eiern darüberstrich und verschiedenfarbige Bändchen um den Brustkorb schnürte. Auch bei anstehenden Reisen, Liebes- oder Familienproblemen, größeren Käufen und Verkäufen, Umzügen, Unternehmungen aller Art wurde sie gerufen, sprich ständig.
    Die Tage im Winter verliefen immer nach demselben Schema – 7 Uhr Frühstück, 13 Uhr Mittagessen, 19 Uhr Abendessen, wie in Deutschland. Auf ihre Weise gehörte die Heilerin zur Familie, man hatte sie zum Essen eingeladen, um sich erst einmal in Ruhe mit ihr zu besprechen. Es gab Plov mit Schaffleisch, danach Suppe mit Kartoffeln, Rüben, Graupen; als Kaufner auf ein Stück Brot biß, in das ein Stück Packpapier eingebacken war, verkündete die Heilerin mit übertriebenem Entsetzen: Oh, ein böses Zeichen! Auf der Stelle müsse man mit dem Ausräuchern der Räume beginnen und bis zum Sonnenuntergang fortfahren. Steppenraute. Weil es niemand tun (oder die Heilerin dafür bezahlen) wollte, ließ man es auf sich beruhen.
    Erinnerte sich stattdessen an den Anlaß der Zusammenkunft, Sher und Maysara beschwerten sich abwechselnd über ihre Tochter. Schon als Mädchen habe sie sich geweigert,
zwei
Zöpfe zu tragen. Geweigert, mit der rechten Hand zu schreiben. Geweigert, Rosen abzuschneiden, um Marmelade daraus zu kochen, weil das den Rosen weh tue. Dann dieser anhaltende Tick mit den weißen Gewändern – »die Farbe des Todes«, ein
sehr
böses Zeichen. Und das seit Jahren. Eine Herumtreiberin sei sie ja immer gewesen, jedenfalls seitdem sie träume. Nun aber treibe sie sich auch noch nachts auf Brücken herum (Kaufner biß sich auf die Zunge, warum hatte er die Brücke überhaupt erwähnt?), wahrscheinlich demnächst dann auf Dächern? Oder gleich als Gespenst? Shochi saß die ganze Zeit stumm da und zupfte die Stiele von den Rosinen, als sei sie bei der Mittwochszeremonie. Die Heilerin runzelte die Stirn, verkündete noch schnell, daß sie fortan in Rubel bezahlt werden wolle, schickte Shochi aufs Sofa und begann mit der Vorbereitung der Behandlung. Ein Teller mit gepellter Zwiebel, roter Peperoni, Knoblauch und einundzwanzig Reiskörnern stand für sie bereit; ein zweiter Teller mit Reis zur Reserve; ein Schüsselchen mit Öl, zwei Fladenbrote.
    Kaufner war nach seinen Erfahrungen mit Schlangenfett keineswegs skeptisch. Außer ihm waren auch mehrere Tanten, Großtanten oder -mütter gekommen, dazu die Älteste vom Gusar. Jetzt hatten die Männer den Raum zu verlassen – Kaufner galt merkwürdigerweise nicht als Mann –, es sollte losgehen.
    Nachdem sie Shochi ein Kopftuch umgebunden hatte, legte ihr die Heilerin zwei Hanfseile um den Kopf und verdrehte sie so ineinander, daß sie Druck auf den Kopf ausüben konnte. Umgehend fing sie laut zu rülpsen an, die Heilerin, ein gutes Zeichen! Weil sie ihre positive Energie auf Shochi übertrage – versicherten die anwesenden Frauen einander hocherfreut –, werde die böse Energie über kurz oder lang aus Shochi hinausfahren müssen.
    Jede Menge böser Energie. Die Heilerin hielt die verknoteten Seile an ihren Enden fest und, so sie nicht rülpste, betete auf Shochi ein. Nach einigen Minuten riß sie ein Stück Brot vom Fladen ab und stieß damit mehrfach auf Shochis offnen Mund herab, legte es ihr anschließend auf die Stirn. Die Krankheit fahre jetzt ins Brot hinein, beteuerten die Frauen ganz aufgeregt, anschließend werde man es den Schafen zu fressen geben, dann sei sie weg. Dabei fing die Alte aus dem Teehaus
Blaue Kuppeln
ebenfalls zu rülpsen an, es lief wirklich sehr gut.
    Abgesehen davon, daß Shochi ständig Kaufner zuzwinkerte und die Augen verdrehte. Abschließend strich ihr die Heilerin mit weiteren Brotstücken über die Gliedmaßen, schnitt den Knoblauch und begann mit der Beschwörung: Sie legte ein Tuch über den Teller mit den einundzwanzig

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