Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
rüde in den Hof zurückgedrückt. Als er dann erneut hereinkam, versetzte er seiner Frau, ohne erst lang zu fragen, eine Ohrfeige, um daraufhin wie von Sinnen auf sie einzuschlagen. Nun war es passiert.
Was war passiert? Maysara beteuerte händeringend, es sei überhaupt nichts passiert. Nur über die Mengen habe sie gestöhnt, die sie herbeibringen mußte. Sie war eine gute Köchin, das war ihr nun zum Verhängnis geworden: Dermaßen viele Polizisten, wie bei ihr mittlerweile auf den Geschmack gekommen waren, konnte sie beim besten Willen nicht angemessen bewirten, immer fehlte es an etwas, nie ging es schnell genug. Um Bezahlung habe sie auch heute nicht gebeten, versicherte sie Sher, der auf einem der Stühle in sich zusammengesunken war und gar nichts mehr hören wollte. Bloß um etwas Geduld.
Die Polizei. Natürlich war sich Sher darüber im Klaren, daß sie in seinen Büchern etwas finden würde, selbst wenn er keine krummen Geschäfte gemacht hätte. Polizisten waren noch schlimmer als die Ausländerbehörde, die alle zwei, drei Tage einen Boten schickte, um eine Tüte mit Geld abzuholen. Kein einziges Mal sah der Bote in die Tüte hinein, es mußte stimmen, ohne daß dazu irgendeine Art von Buchführung stattfand, und bislang hatte es auch immer gestimmt. Polizisten hingegen, das war eine ganz andere Nummer. An den Bilanzen des
Atlas
würden sie ebensowenig interessiert sein, sie wußten, daß Sher einer der Reichsten im Viertel war, das reichte. Wenn es nicht stimmte, was er ihnen zugestand, würden sie »Meldung nach oben machen«. Und was eine solche Meldung bedeutete, war jedem klar, der hier lebte: das sichere Ende.
Nach koreanischen Hunderestaurants stand Sher der Sinn jedenfalls nicht mehr. Mit dem heutigen Tag hatte ihn ein abstrakter Konflikt aus den Abendnachrichten ganz konkret in den eigenen vier Wänden heimgesucht. Von nun an würde er sich immer häufiger auf offener Straße beschimpfen lassen müssen, und das, obwohl er sich neuerdings das schwarze Usbekenkäppchen aufsetzte, sobald er das Haus verließ:
»Du arischer Scheißkerl, wir kriegen dich!«
Auch wenn am Tag darauf erst mal gar keine Polizisten vorbeischauen sollten. Fortan lebte Shers Familie in beständiger Angst vor dem Tag, da sie es tun würden. Kaufner spielte weiter den freundlichen Dauergast, der sich aus allem heraushielt, bloß keine kritischen Kommentare, kein Aufsehen erregen, er hatte begriffen. Saß er mit der Familie bei den Mahlzeiten zusammen, konnte er am Leben in seiner verführerischen Banalität teilnehmen, er mußte sich nur an die Spielregeln halten. So harmlos wie ein Terrorist. Zwar mußte er über diesen Gedanken grinsen, aber etwas anderes als eine Art Attentäter in spe war er ja vielleicht nicht? Natürlich einer, der für die richtige Seite arbeitete, für die gute Sache, einer, von dem Wohl und Wehe des gesamten Freien Westens abhing. Der Gedanke fühlte sich irgendwie groß und wichtig an, größer und wichtiger als alles, was er in seinem Leben bislang gedacht. Bis Mitte, Ende März mußte er hier absitzen, danach konnte Sher gern … Insolvenz anmelden und Bonbons auf dem Registan verkaufen. Von den Lagern wußte Kaufner damals noch nicht, von den Foltermethoden, die darin zur Anwendung kamen, erst recht nicht.
Andere erwischte es schlimmer, Aufregung und Geschrei auch in der Nachbarschaft: Vierfinger-Shamsi war in der Nacht erschossen worden. Erst jetzt stellte sich heraus, daß er Usbeke war, er hatte – natürlich in einem ganz anderen Stadtviertel – gegen Tadschiken gekämpft. Wenn nicht gar Jagd auf sie gemacht! Man wußte nicht, ob man um ihn trauern sollte. Zumindest war es gut, daß sie ihn erwischt hatten. Wer weiß, was er sonst noch angestellt hätte, schließlich war er bei jedem ein und aus gegangen, ein gern gesehener Gast. Bis vor kurzem hatte es niemanden interessiert, ob er Usbeke war oder nicht. Wie hatte er es nur so lange verheimlichen können?
Seine Beerdigung geriet zum Fanal. Sobald der Trauerzug – aufgrund der jahrzehntelangen Nachbarschaft bestand er nun einmal aus Tadschiken – über die Taschkentstraße aus dem Zentrum heraus- und hinterm Bazar, wo es hügelan ging, in die Usbekenviertel hineinzog, kam es zu Sprechchören, vor dem Haupteingang des Friedhofs zur Straßenschlacht. Wie Shamsidin am Ende noch unter die Erde geschafft worden, wußte anderntags kaum einer; die Menge war schließlich mit Wasserwerfern auseinandergetrieben, die Hartnäckigsten mit
Weitere Kostenlose Bücher