Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
der nächste Schock – die Tadschiken hatten bei Bekobod angegriffen! Zum Glück war die usbekische Armee wachsam gewesen und hatte den Angriff zurückgeschlagen, man sah, wie sie mit Artillerie, MG s, Maschinenpistolen in die anstürmenden Menschen auf der anderen Seite des Flusses hineinschoß. Der Krieg, der langersehnte, war er jetzt tatsächlich losgegangen?
Noch ehe man sich für eine Antwort entschieden hatte, klingelte das Telephon, man solle dringend die russischen Nachrichten ansehen, die Wahrheit sei nämlich … Bei
Gazprom TV
erkannte man auf den ersten Blick, daß es mitnichten Tadschiken gewesen waren, die da zu Tausenden über den Grenzfluß hatten setzen wollen. Sondern Usbeken. Usbekische Flüchtlinge, die seit Wochen, Monaten in einem riesigen Lager auf tadschikischer Seite festsaßen, weil ihnen die usbekischen Behörden die Einreise verweigerten. Nun hatten sie sich verabredet, alle auf einmal mit Gewalt ihr Glück zu versuchen – die usbekische Armee feuerte aus allen Rohren auf die, die das gegenüberliegende Ufer hinabstürmten oder im Fluß schwammen, schoß auch noch auf die, die das rettende Ufer fast erreicht hatten. Daß die tadschikischen Bewacher des Lagers, die versucht hatten, die Fliehenden aufzuhalten, bei diesem flächendeckenden Feuer ebenfalls ihr Leben lassen mußten, galt den russischen Kommentatoren keineswegs als Kollateralschaden.
Das Massaker von Bekobod. Blauhelmsoldaten der UNO hatten aus sicherer Entfernung zugesehen, angeblich ohne robustes Mandat, das ein Eingreifen erlaubt hätte. Stattdessen hatten sie wahrscheinlich die Videos gedreht. Da man sich nicht über das eigene Militär empören konnte, tat man es umso lauter über die UNO , und weil in Usbekistan kein UNO -Stützpunkt, wohl aber – bei Shar-i Sabs – einer der NATO war, wurde er noch in selbiger Nacht erneut von der
Faust Gottes
angegriffen. Das Gerücht lief durch die Stadt, daß die tadschikische Regierung Rußland um Hilfe gebeten habe, die Situation im Lande sei außer Kontrolle.
Tags drauf wurde das Gerücht zur offiziellen Nachricht: Rußland sicherte dem »Brudervolk« der Tadschiken Beistand zu, entsprechende Kontingente seien in Marsch gesetzt. Umgehend ordnete der usbekische Präsident die Generalmobilmachung an. Da die russischen Truppen nur aus Kasachstan oder Kirgistan anrücken mußten, würde sein Land innerhalb weniger Stunden auch im Osten durch Einheiten der Roten Armee abgeriegelt sein. Die Sehnsucht nach Krieg flaute in der ganzen Stadt drastisch ab, überall versicherte man einander, daß »Bekobod« nichts als ein tragisches Mißverständnis gewesen. Im Fernsehen wurde eine »Friedensbotschaft« des Präsidenten für den morgigen Tag angekündigt. Selbst Sher war fassungslos (»Keiner würde so was tun, glaub mir, Ali, auch kein Usbeke«). Kaufner tat so, als fehlten ihm die Worte.
Das Navruz-Fest fiel in diesem Jahr aus. Stattdessen marschierten russische »Friedenstruppen« in Tadschikistan ein. All das, was die Chinesen seit Jahren an Straßen und Tunneln für
ihren
künftigen Ein- und Durchmarsch gebaut hatten, nutzen jetzt ihre ärgsten Rivalen. Wahrscheinlich hatten sie auf jenen Moment längst gelauert, womöglich gar die Unruhen so lange geschürt und zur Eskalation gebracht, bis sie der tadschikischen Regierung einen Hilferuf diktieren konnten. So jedenfalls sah man die Sache in Usbekistan. Freudenfeste, welcher Minderheit auch immer, wurden verboten. Nur seltsam, daß die Chinesen nicht reagierten, daß sie sich überhaupt in diesem Krieg so beharrlich zurückhielten. Als ob sie den geeigneten Zeitpunkt abwarteten, an dem alle anderen derart erschöpft sein würden, daß von keiner Seite mehr Widerstand zu erwarten war. Aber was passierte jetzt mit den Tausenden an chinesischen Straßenarbeitern, Grubenarbeitern, Bus- und Lkw-Fahrern, die im Lande waren? Nun, das war jedenfalls nicht die größte Sorge, die man sich in Samarkand machte.
Die größte Sorge war, daß die Russen fortan knapp fünfzig Kilometer vor der Stadt standen, die Drohnen lieferten gestochen scharfe Bilder ihres Aufmarsches. Auf usbekischer Seite kam es zu aufgeregt sinnlosen Truppenverschiebungen nach Nord, nach Süd, wieder nach Nord; gegen die russische Übermacht würde man sowieso keine Front halten können. Für den, der das Serafschantal kontrollierte, lag Usbekistan mit seinen fruchtbaren Oasen und riesigen Gasvorkommen schutzlos offen da. Kein Wunder, daß der Präsident in seiner seit
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