Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Tagen angekündigten Fernsehansprache gleich in den ersten Sätzen den Ausnahmezustand über das Land verhängte; die Ausgangssperre beginne fortan, gut muslimisch, mit dem Gebetsruf nach Sonnenuntergang. Nebenbei erklärte er sich zum »Führer des Volkes« und setzte die Verfassung außer Kraft.
Nun war er losgegangen, der Krieg. Auch wenn ihn die Einwohner von Samarkand noch immer nicht so richtig wahrhaben konnten. Es sollte eine Weile dauern, bis man begriffen hatte, das die moderne Form des Krieges ein mittelalterlich anmutender Straßen- und Häuserkampf war, Nacht für Nacht und Mann gegen Mann, bei gleichzeitiger Verschiebung ganzer Machtblöcke, die aufgrund bloßer Hilferufe oder sonstiger abstrakter Entscheidungen geschahen, ohne daß ein tatsächliches Kräftemessen voranging.
Das Erstaunlichste: Nach dem Massaker von Bekobod und erst recht nach dem Einmarsch der Russen »drüben« rückten Tadschiken und Usbeken in der Stadt enger zusammen, jedenfalls die älteren und bis Sonnenuntergang. Wenn man jetzt sogar vor den eigenen Brüdern auf der Hut sein mußte, konnte man wenigstens jenen die Hand wieder reichen, denen man bis eben nicht übern Weg getraut hätte. Während in der Provinz der eine oder andere Laden eines Tadschiken in Flammen aufging, hockte man in Samarkand einträchtig in den Hauptstraßen, sah den anhaltend hektischen Bauarbeiten zu oder lauschte den Spechten, wie sie die heiße Jahreszeit herbeiklopften, mitten in der Stadt.
Kaufner saß rastlos untätig auf seinem Balkon, malte sich zum hundertsten, tausendsten Mal Timurs Grab aus, versteckt in den Bergen, auf seine Weise mindestens so prachtvoll wie Gur-Emir. Spielte zum hundertsten, tausendsten Mal die Gespräche mit all denen durch, die ihm den Weg dorthin verwehren würden, mit Russen, Tadschiken, Usbeken, sogar Türken. Abends war nicht mal mehr ein Bauarbeiter im Hof zugange, weil bis Einbruch der Dämmerung jeder zu Hause sein mußte. Nur Shochi kam hoch zu ihm, rief leise seinen Namen. Als er endlich die Tür öffnete, stand sie vor ihm, den kleinen Hund im Arm, der schon als Welpe immer nur knapp überlebt hatte. Nun hatte er ausgelitten. Keine einzige Träne lief ihr die Wangen herab, sie hatte es ja gewußt. Am nächsten Nachmittag begleitete er sie zum Ruinenhügel, hob sogar die Grube aus. Zurück im Hof des
Atlas,
verabschiedete sie sich mit einem Lächeln, die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen war kurz zu sehen. Dann aber mußte sie sich binnen Sekunden in etwas Schreckliches verwandelt haben. Etwas schrecklich Lautes. Als Kaufner den Balkon betrat, um nach der Ursache des plötzlichen Lärms zu forschen, sah er sie mit Furor unter Jonibeks Freunde fahren, Firdavs hatte die Doira fallen gelassen und starrte sie mit offenem Mund an. »Und auch du wirst bald sterben!« hörte man sie mit fester Stimme verkünden, jetzt stand sie vor Dilshod, der mit all seinen Tätowierungen und sonstigen Abzeichen der Männlichkeit in den Boden zu sinken bemüht war. Allein Jonibek sparte sie aus, wahrscheinlich weil er ihr Bruder war.
Nun hatte sie ihnen enthüllt, was sie als Gewißheit seit langem mit sich herumtrug. Seitdem gab es abends in der Loggia kein Trommeln, Trinken und Grölen mehr. Wenn der Tag zur Neige ging in der Altstadt von Samarkand, wurde es unglaublich still. Wenigstens waren die Stare zurückgekehrt aus Indien, stundenlang sah man sie Ellipsen und Achter in den Himmel zeichnen, nur kurz verschwanden sie im Formationsflug, um auch die Welt hinterm Horizont zu verwirren. Der Heilige, der den Schnee zum Schmelzen bringen konnte, hatte angekündigt, daß er einige von ihnen abstürzen lassen würde, sobald der Tag und die Stunde gekommen. Seitdem war er wieder von Massen umlagert, man erwartete ein weiteres Wunder. Als ob er am Ende vielleicht gar vor den Russen schützen konnte, so man ihn durch Bewunderung bei Laune hielt.
Was würde Odina in einer derartigen Situation gemacht haben? fragte sich Kaufner. Die Antwort erhielt er im Teehaus
Blaue Kuppeln.
Die Alten hörten einfach alles und als erste; obwohl auch Kaufner mitbekommen hatte, daß es seit Bekobod nur so Protestadressen an Rußland hagelte, hätte er niemals damit gerechnet, daß man ihnen irgend nachgeben würde. Humanitäre Maßnahmen? Aber mit dem Einmarsch der Roten Armee war doch alles wieder im Griff. Internationale Beobachter? Was hätten die schon mehr beobachten sollen als die Blauhelmsoldaten an der Grenze. Freier Grenzübertritt für
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