Samstags, wenn Krieg ist
Brutalisierung der Jugend verantwortlich. Einig sind sich aber Kurier und Morgenpost, dass dem Ansehen Ichtenhagens Schaden zugefügt wurde.
„Ihr werdet euch noch wundern“, sagt Wolf, steckt sich die Lokalseiten in die Jacke und tritt auf die Straße.
Das Städtchen liegt friedlich da. Erster Berufsverkehr.
Noch können sie tun, als ob alles beim Alten geblieben wäre. Ist es aber nicht, grinst Wolf grimmig. Der Krieg hat begonnen.
23
Siggi rasiert sich nass. Es wäre nicht nötig. Aber er fühlt sich gut dabei. Männlich.
Außerdem, wenn man sich oft rasiert, soll der Bart schneller wachsen, hat er gehört.
Er hätte gern so einen richtig harten Bart. Er will sich keinen Schnäuzer stehen lassen. Erst recht keinen Vollbart. So ein Hitlerbärtchen wie Max es hat, findet er albern.
Er steht auf glattrasierte Gesichter. Aber er mag es, wenn man die schwarzen Punkte im Gesicht sieht. Besonders am Kinn. Bei manchen schimmert die Haut dadurch fast bläulich.
Ja, so möchte er aussehen, wie einer, der sich zweimal am Tag rasieren muss, um seine Männlichkeit im Zaum zu halten. Die wild wuchernden Triebe beschneiden. Für Ordnung und Sauberkeit sorgen. Das alles bedeutet Rasieren für ihn.
Er strafft die Haut mit zwei Fingern. Die Doppelklinge schabt am Hals entlang in Richtung Kinn.
Früher hat er sich oft geschnitten. Das ist mit diesen Sicherheitsklingen gar nicht so einfach. Aber er hat es geschafft, damit alle sahen: Aha, Siggi rasiert sich schon.
Nur wenn er dabei unfreiwillig einen Pickel wegkratzte, das tat saumäßig weh. Hinterher entzündeten sich die Pickelkratzer meist. Das mochte er gar nicht. Lieber die geraden Schnitte wie von einem Degenhieb mitten durchs Gesicht.
Ein gutes Jahr hatte er in der Schule Herrn Bauer. Der trug stolz eine Narbe an der Stirn und eine auf der linken Wange. Mensuren nannte er sie. Er erzählte gern davon. Degenkämpfe. Mann gegen Mann. Ohne Gesichtsschutz.
Waren es Degen oder Säbel? Siggi weiß es nicht mehr genau. In seiner Vorstellung kämpfte Bauer früher mit langen Schwertern. Er war eine Art Held. Einer der letzten richtigen Männer.
Bauers Lieblingsbeleidigungen waren: Schlappschwanz und Waschlappen. Zu Siggi hat er das nie gesagt.
Aber Mensuren wie Bauer würde Siggi nie bekommen. Mit Hauptschulabschluss wird man in keine studentische Verbindung aufgenommen.
Siggi zieht sich einen Schnitt über die Wange. Auf einer geraden Fläche tritt Blut aus. Er klatscht Rasierwasser auf die Wunde. Es brennt im ersten Moment schlimmer als er befürchtet hatte. Er tanzt von einem Bein aufs andere.
Bauer hat ihnen oft davon berichtet, wie das war, eine Fleischwunde zu nähen ohne örtliche Betäubung. Keine Medikamente. Lediglich Schnaps und Bier.
In Stalingrad wären sie froh gewesen, wenn sie unter den Bedingungen eine Bauchschussoperation hätten machen können. Es gab kein Morphium. Der Arzt musste aussuchen, wer wert war, gerettet zu werden, wer überhaupt eine Chance hatte.
Er erzählte so plastisch davon, als sei er dabei gewesen. War er aber nicht. Jahrgang 33. Ihm blieb nur das Degenduell.
Ein merkwürdiger Stolz durchflutet Siggi, wie frisches Bergwasser ein lang ausgetrocknetes Flussbett.
Der Bauer war selbst gar nicht dabei, denkt er, dem blieben nur ersatzweise seine Studentenspielchen. Aber die Zeit der Ersatzkämpfe ist vorbei. Jetzt geht es auf der Straße weiter. Im richtigen Leben.
Josef Schmidtmüller hält es nicht länger aus. Er muss raus mit seinem Verdacht. Er stürmt mit der Zeitung in der Hand ins Badezimmer. Siggi weiß sofort, was sein Vater will.
„Hast du damit etwas zu tun?“
„Womit?“, fragt Siggi naiv.
Josef Schmidtmüller klatscht mit der offenen Hand gegen die Zeitung. „Damit!“
Er hält aber nicht die erste Lokalseite, sondern die Titelseite hin. Siggi nimmt die Überschriften genüsslich auf.
„Für die Steuererhöhungen kann ich doch nichts. Oder meinst du die Asylantenschwemme?“
Schmidtmüller packt seinen Sohn und zwingt ihn, ihm ins Gesicht zu sehen.
24
Kommissarin Vera Bilewski ist noch nicht lange bei der Mordkommission, aber bisher hat sie jeden Fall aufgeklärt. Besser gesagt: Jeder Fall hat sich von selbst aufgeklärt. Durch Geständnis, Verrat, oder einfach, weil es auf der Hand lag.
Ihre erschreckende Erkenntnis der letzten zwei Jahre: Die eigentlichen Massaker finden in den Familien statt. Im Kino werden Menschen von Wildfremden ermordet. Im Krieg auch. Was auf der Leinwand der anonyme
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