Samstags, wenn Krieg ist
Stunden verdirbt.
Bessie zieht es in den Wald. Sonst hört sie aufs Wort. Sie geht neben ihm her. Ihren Kopf immer in Höhe seines rechten Knies.
Hubertus Schnee braucht für Bessie keine Leine. Früher, vor der Ausbildung, jagte sie Hasen und Kaninchen. Noch heute reagiert sie darauf, aber sie ist abgerichtet. Ohne Herrchens Befehl oder Erlaubnis frisst Bessie nicht einmal ein Filetsteak.
Um so irritierter ist Herr Schnee, als sie plötzlich schnuppernd in den Wald schießt und, die Nase am Boden, aufgeregt bellt.
Er ruft sie. Aber sie scheint ihn nicht zu hören. Er ruft erneut. Diesmal energisch, ärgerlich: „Bessie!“
Sie ist schon am Ziel.
Sie setzt sich neben Renate und jault. Herr Schnee geht hin.
So etwas gibt es doch nicht, denkt er. Bessie hört nicht!
Dann sieht er die Leiche. Er kennt das Mädchen. Renate Schmidtmüller. Mit ihrem Vater war er früher zusammen im Schützenverein.
Er braucht ihr nicht den Puls zu fühlen, um zu wissen, dass sie tot ist. Sie liegt verrenkt wie eine weggeworfene Puppe.
Sein erster Impuls ist es, wegzulaufen. Er will das hier nicht sehen. Nichts damit zu tun haben. So sieht niemand aus, der eines natürlichen Todes gestorben ist.
Vielleicht ist der Mörder noch in der Nähe …
Hubertus Schnee dreht sich um. Er hört plötzlich überall verdächtige Geräusche. Knackende Zweige. Atmen. Er fühlt sich beobachtet.
Er greift in Bessies Fell. Der Hund gibt ihm ein Mindestmaß an Sicherheit zurück. Bessies Hecheln tut ihm gut.
Er möchte Renate anders hinlegen. Irgendwie bequemer. Er hat das Gefühl, es müsse für sie selbst als Leiche unangenehm sein, mit so verrenkten Gliedmaßen zu liegen.
Eine Mischung aus Vernunft, Angst und Abscheu hält ihn ab.
Der frische Morgenwind hebt die Blätter. Als hätte der Wald für einen Moment die Luft angehalten und würde erst jetzt wieder durchatmen.
Der Wind bringt Klarheit in Herrn Schnees Gedanken. Er rennt los in Richtung Straße. Bessie zögert eine Sekunde, dann setzt sie mit langen Sprüngen hinter ihrem Herrchen her.
Mit rasselnder Lunge erreicht Herr Schnee sein freistehendes Einfamilienhaus. Er denkt nicht an seinen Türschlüssel. Er drückt den Klingelknopf mit der flachen Hand.
Seine Frau läuft im Bademantel herbei.
„Hubertus – was ist?“
„Die Polizei, Ilse. Schnell! Wähl du.“
Er sinkt neben dem Telefon in den Sessel.
„Bist du überfallen worden?“
„Nein. Die kleine Schmidtmüller. Sie liegt tot im Wald.“
Sie hat die ersten zwei Nummern gewählt. Jetzt hält sie inne.
„Mein Gott. Bist du dir sicher?“
„Ja. Nun mach schon.“
22
Wolf steht heute früher auf als sonst. Er zieht sich rasch an. Die Sachen von gestern. In der Unterhose ist ein brauner Streifen. Er sieht nicht mal hin. Die Luftlöcher in den Socken stören ihn schon lange nicht mehr.
Er geht nüchtern aus der Wohnung. Essen könnte er jetzt sowieso nichts, selbst wenn der Tisch gedeckt wäre. Vor allen Dingen will er das Gesicht von ihrem neuen Stecher jetzt nicht sehen.
Im Flur reibt er sich die Oberarme. Ihm ist kalt.
In den Briefkästen stecken die Morgenzeitungen. Er klaut zwei. Den Ichtenhagener Kurier und die Morgenpost. Im Volksmund Morgenpest genannt.
Er hat sich eigentlich vorgenommen, mit den Zeitungen ein stilles Plätzchen aufzusuchen und sie dann in aller Ruhe zu lesen, die Berichte über seine Heldentat. Aber er schafft es nicht. Hektisch blättert er sie schon im Stehen im Flur durch.
Auf der ersten Seite nichts. Nichts auf der zweiten. Auf der dritten Wirtschaftsnachrichten. Dann die neuen Sonderangebote. Er wirft den überregionalen Teil sauer auf den Boden. Aber auf der ersten Lokalseite hat er den Aufmacher. Zwei Fotos vom Friedhof. Das in den Boden gebrannte Hakenkreuz. Drumherum stehen ein paar Polizeibeamte und gucken belämmert. Etwas kleiner dann ein Bild von umgestürzten, zertrümmerten Grabsteinen.
Er überfliegt nur die Überschriften.
Dann den Kurier. Ähnliche Fotos. Etwas größer. Zusätzlich ein Bild des Bürgermeisters. Er drückt Betroffenheit und Scham aus.
Die Morgenpest will nicht ausschließen, dass die Tat politische Hintergründe hat. Der Kurier sieht für politische Motive noch keine Beweise und glaubt an reines Vandalentum. Es hätte genauso gut jeden anderen Friedhof treffen können, steht im Kommentar, oder einen Parkplatz, eine Kirche, ein paar Schaufenster in der Innenstadt. Der Lokalchef sinniert über Gewaltdarstellungen im Fernsehen und macht sie für die
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