Samstags, wenn Krieg ist
Serientäter ist und im Krieg der namenlose Soldat, das ist im normalen Leben immer ein Verwandter. Ein ganz naher Verwandter. Je näher, um so verdächtiger. Wenn Frau und Kinder erschossen aufgefunden werden, war es in 98 von 100 Fällen der Ehemann und Vater. In den zwei übrigen Fällen kann man ihm mangels Beweisen nichts anhängen.
Söhne meucheln ihre Mütter. Väter vergehen sich an ihren Töchtern. Großväter an ihren Enkelkindern. Frauen vergiften ihre Männer. Das Grauen lauert nicht im dunklen Wald, sondern hinter verschlossenen Wohnungstüren.
Aber bei diesem Mädchen hier wird es schwieriger werden. Es könnte der Anfang einer größeren Geschichte sein. Sie spürt gleich, als sie Renate sieht: Wenn wir den nicht rasch kriegen, macht der weiter.
Komisch, es steht sofort für sie fest, dass es ein Mann war. Das Mädchen wurde offensichtlich nicht vergewaltigt. Um das festzustellen, braucht sie kein Laborgutachten. Trotzdem hat die Sache etwas mit Sexualität zu tun. Vielleicht wollte er sie vergewaltigen, hat dann Angst gekriegt und ist weggelaufen. Wenn das so ist, wird er es wieder versuchen.
Es hat ein Kampf stattgefunden. Vermutlich gibt es genug Spuren. Fußabdrücke. Stoffreste. Fremdblut.
Der wird nicht weit kommen, denkt sie, schon siegessicher. Die Frage ist nur, ob wir ihn schnappen, bevor er es noch einmal tut.
„Sie kennen also ihren Namen und ihre Adresse?“, fragt sie Herrn Schnee. Der nickt nur, aber der Dienststellenleiter der Ichtenhagener Schutzpolizei, Frank Schütz, der es sich nicht nehmen lässt, in diesem Fall die Tatortsicherung selbst zu überwachen, antwortet beflissen, ohne gefragt worden zu sein.
„Ich habe schon einen Kollegen losgeschickt, um die Eltern zu benachrichtigen.“
Vera ist darüber sauer und erleichtert. Einerseits lässt sie sich nicht gern ins Handwerk pfuschen, und es wäre ihre Aufgabe gewesen, andererseits hasst sie diese Besuche. Zweimal hat sie dabei schon – rein gefühlsmäßig – den Mörder überführt.
„Bevor Sie die ersten Verdächtigen verhaften, sprechen Sie sich aber bitte mit mir ab“, sagt sie spitz.
Ironie kann eine scharfe Waffe sein. Er sieht getroffen aus. Er ist nicht zum ersten Mal übereifrig gewesen. Tief in sich drin glaubt er, für alles zuständig und verantwortlich zu sein.
Er hat noch nie einen einzigen Tag gefehlt. Seine Jahresgrippe kuriert er nach Feierabend aus. Ohne ihn müsste das Ichtenhagener Polizeipräsidium geschlossen werden.
Vera hat keine Lust, länger im Wald herumzustehen. Sie fährt zu ihrem Schreibtisch. Das Wort Büro wäre eine Beschönigung. Es ist nur ein Schreibtisch mit Kaffeemaschine, Papierkorb und Telefon.
25
Während im Badezimmer ein lautstarker Streit losbricht, steht Yogi am Fenster. Er erwartet den Behindertenbus.
Yogi fährt gern in die Werkstatt. Die Leute dort sind nett. Sie lachen viel und nennen ihn beim richtigen Namen. Sie loben ihn, wenn er etwas richtig macht.
Petra Freitag, seine Betreuerin, ist besonders lieb zu Yogi. Sie malt oft mit ihm. Er hat ihr zum Geburtstag ein Bild geschenkt. Sein schönstes. Wasserfarben. Sie hat sich richtig darüber gefreut. Er konnte es sehen. Es war kein interesseloses: „Oh, wie schön, Yogi.“ Nein, es war echt. Ihr Gesicht und ihre Worte passten zusammen.
Yogi spürt so etwas. Wenn die Gesichter und die Worte nicht wirklich zusammengehören, versteht Yogi die Worte nicht. Es sind dann nur Töne. Lärm. Nichts weiter.
Frau Schmidtmüller räumt den Frühstückstisch ab. Die Käsescheiben wirft sie in die Biomülltonne. Sie wellen sich schon.
Sie handelt mechanisch. Sie kann nur einen Gedanken denken, er nimmt sie völlig gefangen: Renate. Ihr muss etwas passiert sein. Gleichzeitig traut sie sich nicht, diesen Gedanken zuzulassen. Sie hat Angst, sie könne das Unheil herbeirufen, wenn sie es phantasiert.
Sie versucht, sich auf die kleinen, notwendigen Handlungen zu beschränken.
Der Bus hält vor dem Haus.
An der Scheibe hinten klebt Yogis Freund Alf. Er drückt seine Lippen gegen das Glas und pustet seine Wangen auf. Das macht er jeden Morgen, wenn er nicht vorher mit Medikamenten ruhiggestellt worden ist. Wenn andere über ihn lachen, spürt er, dass er lebt.
Yogi lacht heute Morgen aber nicht, denn Yogi wird abgelenkt. Hinter dem VW-Bus taucht ein Gesicht auf: Wolf.
Als Yogi ihn sieht, federt er vom Fenster zurück als hätte er von der Scheibe einen elektrischen Schlag bekommen. Er blubbert etwas, spuckt einen
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