Samstags, wenn Krieg ist
sind. Alles andere gehört in den Bereich des Kaffeesatzlesens.
Vera liest Horoskope und das I Ging. Mit ihren Freundinnen legt sie Tarotkarten. Sie braucht das Erklärungsbuch dazu schon lange nicht mehr. Sie interpretiert die Karten frei nach Alistair Crowley. Diesen Teil ihrer Persönlichkeit verbirgt sie im Dienst völlig. Aber sie weiß, dass sie mehr als die anerkannten Sinne hat. Und sie vertraut den anderen Formen der Wahrnehmung mindestens so sehr wie dem Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken.
27
Der Zeitungsartikel ist vergessen. Siggi geht auch nicht in die Konditorei. Heute wird er keinen Baumkuchen bestreichen. Keine Marmelade in Berliner spritzen. Heute muss er sich um seine Eltern kümmern.
Der Gedanke kommt ihm heroisch vor. Irgendwie erhebend. Dadurch wird die Trauer überdeckt. Er kommt mit seinen Gefühlen nicht klar. Einerseits schießen ihm die Tränen in die Augen, andererseits spürt er den Schmerz nicht wirklich. Es ist nur wie ein fernes Klopfen gegen eine verschlossene Tür.
Vordringlich erscheint ihm, dass seine Eltern ihn jetzt brauchen. Seine Kraft. Seine Klarheit. Seinen Schutz. Besonders Mutter.
Der Vater weint nicht. Er ist wie versteinert. Die Brille sitzt schief auf seiner Nase. Sie droht hinunterzufallen. Er bemerkt es nicht. Er hockt nur im Sessel und sieht mit unbeweglichen Augen aus dem Fenster.
Mutter hat sich auf der Toilette eingeschlossen.
Erst als Siggi es schafft, einen Arm um seinen Vater zu legen, kommt Bewegung in seinen Körper. Schmidtmüller beginnt zu zittern. Sein Kopf läuft rot an. Die Schläfen pochen. Es sieht aus, als säßen Würmer unter der Haut, die versuchen, durch die Knochen ins Innere des Kopfes zu kriechen.
Die Tränen spritzen plötzlich aus seinen Augen. Ihr Weg nach oben war weit. Nur unter hohem Druck konnten sie bis ans Tageslicht kommen. Aber jetzt, da der Kanal einmal geöffnet ist, lassen sie sich nicht mehr aufhalten. Sie riechen alt.
Josef Schmidtmüller krampft sich in der Wäsche seines Sohnes fest. Er zieht ihn ganz nah heran. Ein nah genug oder gar zu nah gibt es auf einmal nicht mehr.
Jetzt kommen auch Siggi erneut Tränen. Aber es ist nicht wegen Renate. Nicht nur. Es ist auch, weil ihm plötzlich bewusst wird, dass sein Vater ihn noch nie so gedrückt hat. Gleich schiebt sich ein tröstender Gedanke zwischen Siggi und diesen Schmerz. Er hat es bestimmt getan. Früher. Ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern.
Die Brille liegt im Sessel. Der Vater ist mit seinem Sohn herausgerutscht. Sie sitzen davor, umklammern sich wie Ertrinkende. Ihre ungestümen Zärtlichkeiten haben einen Hauch von kämpferischer Heftigkeit. Als der Vater den Kopf seines Sohnes an sich drückt, kriegt Siggi fast keine Luft mehr. So ist es, wenn er bei einem überlegenden Gegner im Schwitzkasten sitzt. So beängstigend und doch so schön!
Der Morgen, an dem der Tod seiner Schwester Unglück über die Familie bringt, ist gleichzeitig der schönste Morgen seines Lebens. Er begreift, dass sein Vater ihn liebt. Noch vor Minuten hätte er das für unmöglich gehalten.
Und er weiß jetzt, wie wichtig das für ihn ist. Wie wichtig es immer war. Er hat es sich nur nicht zugestanden. Nie. Nicht für eine Minute. Die Angst, nicht wiedergeliebt zu werden, war zu groß.
All das spürt er in einer Flut von Gefühlen. Einer Flutwelle, in der die Trauer um Renate nur tröpfchenweise vorkommt. Er schämt sich dafür. Aber auch für seine Scham ist in ihm kaum Platz.
Ein Glück, denkt er, dass Yogi schon weg ist.
Er will das, was er jetzt hat und wofür ihm die Worte fehlen, mit niemandem teilen.
Dann plötzlich trifft es ihn wie ein Giftpfeil.
Mutter! Sie ist immer noch im Bad. Er hat ein Schreckensbild vor Augen. Sie liegt mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne.
Siggi reißt sich von seinem Vater los und klopft gegen die Badezimmertür.
„Mama! Mama, was ist? Mach auf!“
Sofort begreift der Vater, was der Sohn denkt.
Schon ist er bei ihm.
„Mama!“
Von innen nur ein Wimmern.
Ohne nachzudenken, wirft Siggi sich gegen die Tür. Sie gibt sofort nach.
Die Mutter sitzt auf der Toilette und putzt sich die Nase mit Klopapier.
Der Schlüpfer hängt ihr auf den Knöcheln. Ihre nassen Augen schauen nicht einmal empört, als die Tür gegen das Waschbecken donnert. Es ist eben eng, obwohl sie dachten, großzügig gebaut zu haben.
Siggi schaut auf die Fliesen. Es ist ihm peinlicher als ihr.
Er stammelt eine Entschuldigung und will die Tür
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